22.07.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Leitartikel
Köhlers Entscheidung

Ganz im
Geiste der
Verfassung


Von Dirk Schröder
Auflösen oder nicht auflösen? Diese Frage hat der Bundespräsident gestern Abend endlich beantwortet, einen Tag vor Ablauf der letzten Frist. Seit Tagen blickte ganz Deutschland auf Horst Köhler. Die spannendste Frage war dabei jedoch: Wann wird das Staatsoberhaupt seine Entscheidung bekanntgeben? Weniger ging es um die Frage, ob Horst Köhler dem Vorschlag von Bundeskanzler Gerhard Schröder folgen und den Bundestag vorzeitig auflösen werde? Denn diese Frage hatten die meisten Politiker und Bürger längst für sich beantwortet.
Der Bundespräsident werde bei allen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht umhin können, den Weg für Neuwahlen am 18. September freizumachen.
Für die Parteien wurden schon die ersten Wahlplakate gedruckt - der Wahlkampf ist trotz der erst gestern beendeten Unsicherheit weit fortgeschritten. Und auch die Bevölkerung hat sich bereits darauf eingerichtet, im September erneut an die Wahlurnen zu gehen. Zumindest 73 Prozent halten eine Neuwahl auch für richtig.
Der Bundespräsident hat sich bis wenige Stunden vor der gesetzlichen Frist Zeit gelassen, um über das Schicksal von Rot-Grün zu entscheiden. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, stand er doch vor der schwierigsten Entscheidung seines bisherigen politischen Lebens. Wenn ihm etwas vorzuwerfen ist, dann, dass er zu lange Ungewissheit über den Zeitpunkt der Bekanntgabe gelassen hat.
Gerhard Schröder und auch die SPD-Abgeordneten haben es dem Bundespräsidenten wahrlich nicht leicht gemacht. Die Art und Weise, wie der Kanzler die Vertrauensabstimmung im Bundestag verloren hat - SPD-Chef Franz Müntefering: »Schröder hat noch das Vertrauen der Fraktion« -, war eine Farce und musste geradezu nicht geringe verfassungsrechtliche Bedenken hervorrufen.
Wen wundert es da noch, dass sich Köhler mit seiner Entscheidung schwer tat, zumal ihm ja noch das Bundesverfassungsgericht einen Strich durch die Rechnung machen kann. Das ist zwar eher unwahrscheinlich, doch angerufen wird Karlsruhe mit Sicherheit, nachdem sich Köhler für die Auflösung des Parlaments ausgesprochen hat.
Bedenken hin, Bedenken her, es ist eine staatspolitische Entscheidung im Geiste der Verfassung, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. »Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten.« Das sagte Köhler kurz nach seiner Wahl. Er wird sich in diesen Tagen daran erinnert haben.
Etwas anderes ist auch deutlich geworden. Der Bundestag braucht das Recht zur Selbstauflösung, vor das natürlich hohe Hürden gesetzt werden müssen. Schon 1976 hatte eine Bundestagskommission festgestellt: »In einer Situation, die nur durch Neuwahlen eine sinnvolle Lösung finden kann, muss der Bundestag ein Selbstauflösungrecht haben.«
Genau dies ist doch die Situation in Deutschland im Jahr 2005.

Artikel vom 22.07.2005