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Karlsruhe kann
Neuwahl stoppen

Mut zu unbequemen Entscheidungen

Von Wolfgang Janisch
Karlsruhe (dpa). Nach der Entscheidung des Bundespräsidenten blickt die Republik auf Karlsruhe. Traut sich das Bundesverfassungsgericht, den Zug doch noch zu stoppen, der seit Wochen auf eine vorgezogene Bundestagswahl zurollt? Der grüne Bundestagsabgeordnete Werner Schulz bekräftigte gestern, klagen zu wollen.
Werner Schulz will gegen die Auflösung des Bundestages klagen.

Wer glaubt, die Richter werden angesichts der einhelligen Entscheidung dreier Verfassungsorgane das Signal eingeschüchtert auf Grün stellen, sollte sich nicht zu sicher sein: Mut zu unbequemen Entscheidungen haben die acht Richter des Zweiten Senats bisher jedenfalls nicht vermissen lassen.
Das hat der Senat erst in dieser Woche mit seinem Urteil zum Europäischen Haftbefehl wieder bewiesen. Dass sie sich durch eine Phalanx von Verfassungsorganen wenig beeindrucken lassen, hatten die Richter schon im März 2003 mit der Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens bewiesen - die Anträge stammten von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung.
Überhaupt hat sich die rot-grüne Regierung beim Zweiten Senat in Karlsruhe ein ums andere Mal eine Abfuhr geholt. Selbstverständlich lässt sich daraus nicht folgern, dass die Kette von Niederlagen nun um ein weiteres Glied verlängert wird
Entscheidend dürfte sein, ob der Zweite Senat die »unechte« Vertrauensfrage weiter in der Staatspraxis etablieren will oder doch eine Grundgesetzänderung - ein echtes Selbstauflösungsrecht - für die saubere Lösung hält. Die Väter und Mütter des Grundgesetz hatten damals jedenfalls hohe Hürden gegen eine Parlamentsauflösung errichten wollen. Sich über ein vorgeschobenes Misstrauen Neuwahlen zu verschaffen, hätten sie - die wechselhaften Weimarer Verhältnisse noch vor Augen - wohl als frevelhaft angesehen.

Artikel vom 22.07.2005