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Berlins Bahnhof der Superlative

Von Dirk Schröder
Berlin (WB). Nahe dem Spreebogen, in Sichtweite von Bundeskanzleramt, Bundestag und Brandenburger Tor entsteht in Berlins neuer Mitte Europas modernster Kreuzungsbahnhof. Rechtzeitig zur Fußball-Weltmeisterschaft, im Mai 2006, soll dieses Bauwerk der Superlative fertig werden. Spektakuläre Baumaßnahmen lassen aber schon Ende Juli die Welt auf den künftigen Berliner Hauptbahnhof blicken.

An drei Wochenenden im Juli und August wird der Bahnverkehr in der Hauptstadt erheblich eingeschränkt sein, etwas bisher Einmaliges ist geplant: In 23 Meter Höhe sollen zwei 1200 Tonnen schwere Gebäudeteile von 43,5 Meter Höhe aus der Senkrechte in die Waagerechte gekippt werden. Die beiden Stahlträgerkonstruktionen werden dabei mit einer Genauigkeit von zwei Zentimetern Versatz zusammengefügt. »Das ist, als ob man ein Hochhaus langsam umkippt«, erläuterte der Technische Projektleiter Harry Azer. Ein riesiges Scharnier halte die Brückenteile dabei in Position.
Nach dem Unterwasser-Betonieren oder dem Tunnelbau gehört die nach Azers Worten in Deutschland und Europa einmalige Ingenieursleistung zu den spetakulärsten Arbeiten beim Bau des 500 bis 700 Millionen Euro teuren Bahnhofs. Harry Azer ist sich sicher, dass das Klappen der Bügelbauten funktionieren wird. »Ich habe Vertrauen in die anderen, als Techniker in die Technik und nicht zuletzt den Ehrgeiz, es zu schaffen«, sagt der 56-jährige in Ägypten geborene Bauingenieur.
Die Bügelbauten werden in ihrer Mitte ein weiteres Glasdach, das Nord-Süd-Dach der Bahnhofshalle, tragen. Das Ost-West-Dach wird von dem 210 Meter langen Nord-Süd-Dach schiefwinklig gekreuzt. Am Schnittpunkt beider Dächer entsteht eine flache Kuppel. Die beiden insgesamt 12-geschossigen Bügelbauten werden 50 000 Quadratmeter Grundfläche umfassen.
Für Azer ist der neue Hauptbahnhof »der ganz große Wurf«, schon der Architektur wegen. »So etwas sehen sie in Deutschland kein zweites Mal«, schwärmt er. »Das ist hier nicht irgendeine Betonhalle, das ist eine Kathedrale.«
Anfang der neunziger Jahre entstanden die ersten Ideenskizzen für den Berliner Hauptbahnhof. 1995 wurde das Planfeststellungsverfahren für die Nord-Süd-Verbindung abgeschlossen, 1998 begann der eigentliche Bahnhofsbau. Die Nähe der Spree, des Tiergartens und die angrenzende Bebauung ließen nur vorsichtige Eingriffe in die Grundwasserverhältnisse zu.
Nacheinander entstanden insgesamtz neun Baugruben mit einer Fläche von 90 000 Quadratmetern. Das entspricht der Größe von elf Fußballfeldern. Dabei wurden 1,5 Millionen Kubikmeter Erde ausgehoben und vom Humboldthafen per Schiff abtransportiert. Wäre diese Menge per Lastwagen befördert worden, hätte sich eine 1300 Kilometer lange Karawane von schweren Kippern ergeben. Vom Brandenburger Tor bis an die französische Atlantik-Küste hätte die Lastwagenschlange gereicht.
Die Baugruben entstanden in der umweltverträglichen sogenannten Wand-Sohle-Bauweise. Mit diesem Verfahren wurde eine von allen Seiten umschlossene, wasserdichte Baugrube errichtet, in der dann die unterirdischen Bauwerksteile erstellt werden konnten.
Täglich 450 Menschen arbeiten auf der Baustelle und täglich kommen zahlreiche Fachleute aus aller Welt nach Berlin, um sich die technischen Finessen des High-Tech-Haltepunkts erklären zu lassen. »Wir haben 101 Neuzulassungen für nicht genormte technische Lösungen beantragt«, sagt Azer nicht ohne Stolz. Beispiele gefällig: Weil die Gebäude an der Nord-Süd-Trasse, unter anderem am Regierungsviertel, empfindlich für Erschütterungen sind, wurden die Gleise auf elastische Lager verlegt. Azer: »In acht verschiedenen Varianten, das ist einzigartig.« Ebenso wie die Stromführung für die Züge im unteren Bahnhofsgeschoß. Die Leitungen verbergen sich in kaum sichtbaren Deckenstromschienen.
Am 28. Mai 2006 soll der neue Mammutbahnhof eröffnet werden. Nach Erläuterungen der Bahn AG werden sich die Fahrzeiten von und nach Berlin um bis zu 40 Prozent verkürzen. Karl-Friedrich Rausch, Vorstand Personenverkehr: »Allein zwischen Berlin und Leipzig verringert sich die Fahrzeit im ICE um 40 auf dann nur noch gut 70 Minuten. Insgesamt rechnen wir mit einer deutlichen Steigerung der Zahl der Reisenden im Knoten Berlin. So erwarten wir hier einen Zuwachs um sechs Millionen auf dann 19 Millionen Kunden im Fernverkehr bis zum Jahr 2010.«
Der Hauptbahnhof soll ein Bahnhof der kurzen Wege werden. Tageslicht auf allen Ebenen soll eine freundliche Atmosphäre schaffen. Auf einer Fläche von 430 mal 430 Metern bündelt der Bahnhof fünf Ebenen. In 15 Metern Tiefe vier Bahnsteige und acht Gleise der Nord-Süd-Verbindung mit dem Tiergarten-Tunnel. Daneben die Station der U5. Darüber liegt ein Zwischengeschoss, das eine Verbindung zum Parkhaus mit 900 Stellplätzen schafft und in dem sich Geschäfte, Gastronomie und Service-Einrichtungen befinden.
Auf Straßenniveau werden diverse Dienstleistungseinrichtungen geschaffen. In 10 Metern Höhe fahren von einem S- und zwei Fernbahnsteigen die Züge in Ost-West-Richtung. Im zentralen Bereich des Bahnhofs überwinden 28 Rolltreppen, fünf feste Treppen sowie acht Aufzüge Höhenunterschiede bis zu 25 Metern. Sechs gläserne Panoramaaufzüge sollen den Bahnhof beim Umsteigen erlebbar machen. Rausch: »Mit dem neuen Hauptbahnhof verabschiedet sich Berlin endgültig von den Folgen der Teilung.«

Artikel vom 20.07.2005