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Heinrich Böll starb vor 20 Jahren

Von Gerd Korinthenberg
Köln (dpa). Zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Literatur- Nobelpreisträgers Heinrich Böll (1917-1985) nimmt das Interesse an seinem Werk wieder zu.

Auf Lesungen und Ausstellungen, zu denen auch sehr viele junge Leute kämen, gebe es heute mehr Resonanz als noch vor zehn Jahren, berichtet der Böll-Neffe und Leiter des Kölner Böll-Archivs, Viktor Böll. Aus den Beständen des Archivs werden derzeit die wichtigsten der 2111 Einzelwerke Bölls in einer 27-bändigen »Kölner Ausgabe« neu herausgegeben. Nach Bölls Tod am 16. Juli 1985 war die Stahlkraft seines Werkes allmählich verblasst. Der Krieg und seine verheerenden materiellen wie seelischen Auswirkungen, sturer Militarismus, bigottes Spießertum und die Verknöcherungen der katholischen Amtskirche, die permanenten Reibungsflächen für das literarische Schaffen des Kölners, spielten in der öffentlichen Diskussion lange Zeit keine Rolle mehr. Das rheinisch-katholische Milieu, dem auch Böll entstammte, war prägend nur für die ersten Jahrzehnte der »Bonner Republik«. Zudem sei es selbstverständlich, dass ein Autor ohne Neuerscheinungen leicht aus dem Blickfeld gerate, meint Viktor Böll.
Doch nun scheint es, als werde nach dem Ende der Spaßgesellschaft der Streiter für Menschenrechte und Sitzblockierer vor US- Raketenbasen als moralische Instanz und als kritischer Autor mit Gespür für die Anfälligkeit der derzeitigen Demokratie wiederentdeckt. Insbesondere ein halbes Dutzend Titel von »Billard um halbzehn« über das »Irische Tagebuch« bis zu »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« hält - mit einer deutschsprachigen Auflage von etwa zehn Millionen Exemplaren - das wachsende Interesse an Böll wach. Auch die 18 posthum nach Böll benannten Schulen sowie die mehr als 10 000 Zuhörer bei einer Böll-Reihe 2002 in Köln sind ein deutliches Zeichen.
Bemerkbar macht sich ebenso eine Neubewertung des literarischen Aspekts bei Böll, der oft für seinen wenig artifiziellen Stil kritisiert worden ist. Er wollte nach eigenem Bekunden nicht »das Nichtssagende in unsterblicher Schönheit«, sondern das Schicksal einfacher Menschen in einfacher Sprache beschreiben. Diese »Humanität des Alltags« schätzt Christa Wolf an dem Rheinländer; »Literatur-Papst« Marcel Reich-Ranicki mag besonders die kleineren Formen und die Satiren wie »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen« Bölls, dessen Erfolg »in erster Linie mit seinem Blick für die wirklich großen Themen damals« zusammenhänge.
Nobelpreis-Kollege Günter Grass legt den »wunderbaren Erzähler Böll« mit seinen differenziert geschilderten Figuren jungen Autoren ausdrücklich ans Herz. Der diesjährige Kölner Böll-Preisträger Ralf Rothmann (51) beruft sich ebenso deutlich auf die literarische Qualität Bölls wie der Autor und Bachmann-Preisträger Norbert Niemann, der in einem »Zeit«-Essay Böll mit Balzac verglich, den »Spiegel einer verschwundenen Welt«. Für Heinrich Böll gelte jedoch auch, was der Kölner selbst einmal über Balzac gesagt habe: »Groß ist bei ihm auch, was teilweise misslungen erscheinen mag.«

Artikel vom 16.07.2005