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NRW kann schlecht lesen

Ulrich Schiefele: »Nicht nur Ausländer betroffen«

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Wenn es um die Lesekenntnisse und das Textverständnis der Schüler geht, hat das Land Nordrhein-Westfalen noch keine Fortschritte erzielt. Beim zweiten Pisa-Bundesländer-Vergleich landete NRW mit 480 Punkten auf dem enttäuschenden 12. Platz.

Musterknabe Bayern erzielte mit 518 Punkten 38 mehr. Ein Abstand von 33 und mehr Zählern bedeutet nach Einschätzung von Pisa-Forschern, dass die Schüler beim Lernfortschritt ein ganzes Schuljahr hinterher hinken.
»Lesekompetenz und Textverständnis sind die zentralen Schlüsselqualifikationen für die Berufsaussichten von Jugendlichen«, sagte gestern Ulrich Schiefele dieser Zeitung. Der Psychologie-Professor der Universität Bielefeld ist Sprecher der nationalen Pisa-Expertengruppe für den Bereich Leseverständnis. Die Schwächen vieler deutscher Schüler hätten sich beim Pisa-Test auch deswegen so deutlich gezeigt, weil die gestellten Aufgaben viel Lesearbeit erfordert hätten.
Schiefele warnte vor dem Irrglauben, die Mängel zeigten sich vor allem bei Kindern von Einwanderern. »Wenn man Migrantenkinder aus der Stichprobe herausnimmt, verändert sich nicht viel - das schlechte Abschneiden wird dadurch nicht beseitigt«, betonte der Wissenschaftler.
Dagegen hatte gestern die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, eine »schreiende Ungerechtigkeit gegenüber Kindern aus ärmeren Familien und Migrantenfamilien« beklagt. Weil sich Behörden und Schulen ungenügend um sie kümmerten, herrsche beim Lesen und dem Textverständnis Stagnation. »Zwei Drittel der Schwachen sind keine Migranten«, rückte Schiefele die Verhältnisse zurecht. Natürlich seien Einzel- und Gruppenförderung sowie sozialpädagogische Unterstützung für Ausländerkinder sinnvoll, aber das Problem damit nicht gleichzeitig verschwunden.
»Unsere schwache Gruppe ist relativ groß, und unsere guten Schüler sind international gesehen nur mittelmäßig gut«, erläuterte Schiefele. Die wirksame Bekämpfung von Unterrichtsausfall und die Einführung des Zentralabiturs können nach seiner Meinung die Ergebnisse bei künftigen Pisa-Studien verbessern. Während für den internationalen Leistungstest 5000 Schüler in Deutschland herangezogen wurden, beruht der bundesweite Leistungsvergleich auf einer größeren Stichprobe. Um die Länder repräsentativ abzubilden, wurden bis zu 40 000 Jugendlichen die selben Aufgaben gestellt.

Artikel vom 15.07.2005