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Fernsehansprache zu
Neuwahlen erwartet

Bundespräsident will Bundestag angeblich auflösen

Berlin (dpa). Bundespräsident Horst Köhler wird sich im Laufe der Woche voraussichtlich in einer Fernsehansprache zum Thema Neuwahl an die Deutschen wenden.

Nach einem »Spiegel«-Bericht hat Köhler bereits intern signalisiert, dass er der Auflösung des Bundestags zustimmen werde, die Kanzler Gerhard Schröder (SPD) mit seiner gewünscht verlorenen Vertrauensfrage am 1. Juli beantragt hatte. Das Bundespräsidialamt war gestern zu einer Stellungnahme nicht zu erreichen. Köhler hat bis Freitag Zeit, sich zu entscheiden.
Nach einer Umfrage glauben 83 Prozent der Bürger, dass Köhler das Parlament zum dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auflösen wird. Laut »Spiegel« will sich Köhler wie Bundespräsident Karl Carstens 1983 direkt an die Menschen wenden. Auch Bundespräsident Gustav Heineman hatte sein Votum für die Auflösung des Parlaments 1972 mit einer TV-Ansprache verbunden.
Dem »Spiegel«-Bericht zufolge befürchtet Köhler nichts mehr als das politische Chaos, das nach einer Entscheidung gegen Neuwahlen ausbrechen würde. Die politischen Akteure würden sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen überziehen und das Ansehen der Politiker in Deutschland endgültig ruinieren.
Die Ankündigung Schröders, er werde im Falle der Ablehnung weiterregieren, empfinde Köhler als Drohung. SPD-Chef Franz Müntefering hatte am Wochenende noch einmal einen Rücktritt Schröders ausgeschlossen, falls der Bundespräsident den Bundestag nicht auflöst. Darüber habe er mit Schröder gesprochen, erklärte der SPD-Chef. Müntefering sagte, falls Köhler das Parlament nicht auflösen sollte, wäre das nicht gut für Deutschland. Sowohl im Bundesrat als auch im Vermittlungsausschuss habe die Union eine Mehrheit gegenüber der rot-grünen Koalition.
Bundestagspräsident und SPD-Vize Wolfgang Thierse hält es für möglich, dass Karlsruhe eine Neuwahl stoppen könnte. Zwei Abgeordnete wollen gegen eine Auflösung des Bundestags klagen. Thierse sagte dem »Tagesspiegel am Sonntag«: »Vielleicht kommt es ja auch ganz anders und das Bundesverfassungsgericht lässt Neuwahlen gar nicht zu.« Dann wäre Rot-Grün »dazu verurteilt«, weiterzuregieren.
Komme es zur vorgezogenen Bundestagswahl, hält Thierse einen Regierungswechsel für möglich. »Es ist fast schon tragisch: Wir Sozialdemokraten haben als Erste mit den Reformen begonnen und damit alle menschlich verständlichen Abwehrkräfte der Gesellschaft gegen uns mobilisiert und nun, da viele dieser Abwehrkräfte überwunden sind, kann vielleicht eine andere Regierung die Früchte dieser Bemühungen ernten.« Seiner Partei sei es wohl nicht ausreichend gelungen, »den sozialen Sinn der Reformen klar zu machen«.
Drei Viertel der Deutschen wünschen sich, dass Köhler diese Woche den Weg für eine Neuwahl freimacht. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag von »Bild am Sonntag« sprechen sich 75 Prozent für eine vorgezogene Bundestagswahl im September aus, 18 Prozent sind dagegen.
Die meisten Neuwahl-Befürworter finden sich unter den Anhängern der Union (88 Prozent Ja, 8 Prozent Nein), die meisten Skeptiker bei den PDS-Wählern (61 Prozent Ja, 36 Prozent Nein). Auch 69 Prozent der SPD-Anhänger sind für eine vorgezogene Wahl, 25 Prozent lehnen dies ab. Im Lager der Grünen sind 75 Prozent dafür und 23 Prozent dagegen, bei der FDP sprechen sich 84 Prozent für und 12 Prozent gegen eine Neuwahl aus.

Artikel vom 18.07.2005