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Reform zwingt
Bauern an den
Schreibtisch

Antragsflut und Aufklärungsbedarf

Von Marion Neesen (Text) und Wolfram Brucks (Foto)
Kreis Paderborn (WV). Es sollte ein Bürokratieabbau werden, das Gegenteil ist eingetreten. Wenn Dr. Walter Frede auf die vergangenen Monate zurückblickt, türmt sich vor seinen Augen eine Antragsflut auf. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Landwirte so viele verwaltungstechnische Aufgaben zu erledigen hatten wie in diesem Jahr. Wir haben bisher nicht gekannte Dimensionen erreicht«, so der Leitende Landwirtschaftsdirektor der Landwirtschaftskammer. Gründe für die bäuerliche Papierflut sind die Agrarreform 2005 und das so genannte »Cross compliance«, das die Gewährung von EU-Beihilfen ganz neu regelt.

Früher war die Sache einfach. Anhand von Katasterdaten ermittelte der Landwirt die Größe seiner Flächen und konnte dementsprechend mit EU-Zuschüssen rechnen. Jetzt bilden Luftaufnahmen, per Satellit erstellt, die Basis für die Berechnung von Beihilfen. »Jeder Landwirt muss nun seine Flächen über Luftbilder definieren, um einen Antrag auf Ausgleichszahlungen stellen zu können. Damit wurde das System auf völlig neue Füße gestellt«, so Walter Frede. Zudem gibt es keine produktbezogenen Prämien mehr, die Beihilfen werden pauschal über die Flächen ausgeschüttet und die Bauern müssen jedes Jahr ihre Ansprüche neu geltend machen.
»Für die Landwirte sind die neuen Antragsbedingungen von zentraler und existenzieller Bedeutung. Heute werden die Weichen bis 2013 gestellt. Wer jetzt einen strategischen Fehler macht, kann diesen nicht mehr korrigieren«, so Walter Frede. »Da kann einem Europa auch schon mal Angst machen«, bestätigt Kreislandwirt Johannes Giesguth. Ein ähnlich ungutes Gefühl hatten wohl auch die rund 2500 Landwirte im Kreis Paderborn. »Seit September 2004 beschäftigen wir 20 Aushilfskräfte, um der Antragsflut Herr zu werden«, sagt der Landwirtschaftsdirektor Frede. 450 Anträge mehr als üblich lagen auf den Schreibtischen. 99 Prozent der Bauern haben sich bei der Kammer Hilfe geholt, sich beraten lassen. Das hat manchmal bis zu einen Tag lang gedauert. Und dennoch sind noch viele Fragen offen. »Das sind höchst komplizierte Verfahren und sehr betriebsindividuell«, so Walter Frede. Welch irrsinnige Dimensionen das neue System bisweilen erhält, macht Kreislandwirt Johannes Giesguth an einem Beispiel klar: Die Flächen werden in Feldblöcke eingeteilt, und so machte der Satellit auch Bilder von einem seiner Feldblöcke in der Nähe von Fürstenberg. Nun wichen aber die Satelliten-Daten von den bisherigen Katasterdaten um rund 30 Quadratmeter ab. Vermutlich hatte eine Baumgruppe einen Schatten auf einen Teil der Fläche geworfen, die somit nicht erfasst wurde. Nun steht der Landwirt in der Pflicht, seinen Anspruch nachzuweisen, das ganze Verfahren auf Beihilfen wird blockiert. »Das Absurde ist dabei, dass es gemessen an den 30 Quadratmetern um etwa einen Euro geht«, so Giesguth, der lieber das Kerngeschäft eines Landwirtes wieder voranbringen würde, statt seine Zeit am Schreibtisch und vor dem Computer zu verbringen.
Man habe eine EU-einheitliche Regelung schaffen wollen, so Walter Frede, da es in manchen Ländern wie etwa Italien keine Katasterdaten gab, habe man das neue Verfahren gewählt: zum bürokratischen Nachteil der Paderborner Landwirte. »Eigentlich ist Europa eine tolle Sache, aber es ist unverständlich, Dinge zu ändern, die früher gut gepasst haben«, schüttelt Giesguth verständnislos den Kopf. Und außerdem könne man heute noch nicht sagen, was der einzelne Landwirt am Ende des Jahres bekomme. »Auf jeden Fall weniger, das ist sicher.«

Artikel vom 14.07.2005