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Nudeln machen »Lüdewiikee« stark

Ein Tag bei der Tour de France: Jörg Ludewig aus Steinhagen gewährt den Blick hinter die Kulissen

Aus Frankreich berichtet Sören Voss (Text und Fotos)
Grenoble (WB). Mehr als 80 Stunden sitzen die Radprofis bei der Tour de France über drei Wochen im Sattel, dieses Mal sind es 3607 Kilometer bis Paris. Was aber machen die Fahrer vor und nach dem Rennen? Der Steinhagener Jörg Ludewig (29) vom Team Domina Vacanze hat dem WESTFALEN-BLATT einen exklusiven Einblick hinter die Kulissen gewährt.
Wundertüte: Die Lunchpakete gibt es auf Bestellung.
Erste Hilfe: Ein Betreuer versorgt Ludewigs lädiertes Knie.

8:16 Uhr: Der tägliche Weckanruf des Lokalradios. »Bei mir läuft alles gut«, lässt der Steinhagener im Morgeninterview verlauten. Team- und Zimmerkollege Rafael Nuritdinov scheint mit Blick auf die Uhr nicht gerade erfreut, nimmt es aber mit usbekischer Gelassenheit.

8.30 Uhr: Die Lage des Hotels erinnert mehr an einen Autohof nahe der Autobahn als an französische Bergidylle. Auch die Zimmer sind eher funktional als luxuriös eingerichtet. Zum Schlafen und Zähne putzen reicht es, »und wir hatten schon viel schlechtere Unterkünfte.«

8.45 Uhr: Beim Frühstück lassen es die Vacanze-Fahrer im wahrsten Sinne de Wortes ruhig angehen. Es wird fast nicht gesprochen. Ludewig bleibt locker: »Vier Italiener, ein Ukrainer, ein Kasache, ein Usbeke und ein Deutscher -Êauf welche Sprache soll man sich da einigen?« Auf den Teller kommen Haferflocken, Honigbrote und vor dieser Bergetappe auch Reis.

9.35 Uhr: Koffer packen! Schließlich sollen die Sachen heute Abend vor den Fahrern im Hotel sein und nicht umgekehrt.

10.30 Uhr: Abfahrt zum Start. »Mist. Jetzt hab ich mein Trikot im Hotel liegen lassen!« Für einen guten Zweck hat Ludewig Unterschriften im Fahrerlager gesammelt. Jetzt muss das Shirt nachgeschickt werden. »Das kann in der Hektik schon mal passieren.«

10.32 Uhr: Verdunkelte Scheiben riegeln die Fahrer im Teambus vor neugierigen Blicken ab. Auf den gemütlichen blauen Sitzen kann man sich heimisch fühlen, doch momentan stinkt es im zweiten Zuhause der Domina-Vacanze-Crew nach faulen Eiern und totem Fisch. Ludewig: »Da ist irgendwas in der Lüftung. Die Mechaniker haben zwei Stunden gesucht, bislang aber nichts gefunden.«

10.50 Uhr: Ankunft am Etappenstart in Grenoble. Trikots überstreifen, Helme aufsetzen, Funkempfänger ins Ohr stöpseln, anschließend kurze Teambesprechung. Der ergraute Team-Manager Gianluigi Stanga ist ein alter Hase im Radsportgeschäft. »Wer holt die Wasserflaschen, wer darf heute Angriffe fahren?« Insgesamt merkt man aber, dass seine Mannschaft spätestens nach der Aufgabe von Kapitän Honchar nicht mehr unter Siegesdruck steht.

11.15 Uhr: Es geht zum Einschreiben für die Etappe aufs Podium. Tour-Sprecher Daniel Mageas begrüßt auch »Joorge Lüdewiikee« per Mikrofon. Small- talks mit Kollegen anderer Teams und Journalisten. Außerdem will das ZDF ein Interview.

11.34 Uhr: Jetzt wird es im allgemeinen Trubel hektisch. »Alles dabei?« Der Steinhagener hat eine Wasserflasche am Rad-Rahmen, in den Trikottaschen sind Powerriegel, Etappenplan und ein GPS-Sender verstaut. »Der Transponder wiegt weniger als 100 Gramm und ist ein Service für die Fernsehzuschauer. Damit können mein Puls, Trittfrequenz und aktuelle Geschwindigkeit eingeblendet werden.«

12.34 Uhr: »Tour-Chef« Jean-Marie Leblanc gibt wegen Bauernprotesten mit Verspätung den Weg für die nur noch 168 Kilometer der 10. Etappe frei. Die ist alles andere als ein Spaß. Ludewigs Teamfahrzeug hat eine Panne, und der Steinhagener muss sich seine Getränke bei den Konkurrenten zusammenschnorren.

17.31 Uhr: Zielankunft in Courchevel. Sofort rein in den Teambus, die verschwitzen Klamotten aus. Wer zuerst im Ziel ist, mahlt zuerst. Denn für die Ersten gibt es noch eine kurze Dusche, die anderen müssen sich bis zur Ankunft im Hotel gedulden. Das ist dieses Mal ganz in der Nähe und bietet mehr Luxus als von außen zu erwarten ist. »Im Badezimmer könnte man Minigolf spielen«, staunt der Steinhagener.

17.50 Uhr: Anruf von der Medienfabrik Gütersloh für das Tour-Tagebuch. »Wie war der Tag?« Schließlich sollen auch alle Leser der täglichen Kolumne auf dem aktuellen Stand sein.

18.05 Uhr: Im Hotelzimmer stehen für jeden Fahrer die bestellten Lunchpakete. Je nach Geschmack sind die Tüten zusammengestellt.

18:15 Uhr: Entspannung ist angesagt, es geht zur ausgiebigen Massage. Das Team hat vier Masseure, jeder Fahrer wird bis zu 60 Minuten »durchgewalkt«.

19.00 Uhr: Rundgang des Teamarztes, der sich nach Problemen erkundigt. »Nach fünf Stunden auf dem Rad sind Rückenschmerzen und Sitzpickel keine Seltenheit«, weiß Ludewig.

19.15 Uhr: Heilpraktiker Ralf Wigand ist für einige Tage extra aus Bielefeld angereist, um für den Ostwestfalen eine optimale persönliche Betreuung zu garantieren. Mit einer gezielten Neuraltherapie werden die Nerven in Händen und Füßen angeregt. Telefonisch gibt außerdem das Städtische Krankenhaus Bielefeld Ratschläge gegen den Druck im rechten Knie.

20.00 Uhr: Abendessen. Der Kohlehydratspeicher muss aufgefüllt werden, nachdem auf der Etappe ungefähr 9000 Kalorien (normal: 2500) verbraucht worden sind. Auf den Tisch kommen Nudeln, Nudeln und Nudeln. (Um die Verluste komplett zu kompensieren, müsste man eigentlich 2,7 Kilo Spaghetti essen.) »Und leider gibt es eine Stunde lang striktes Telefonverbot. Wer mich kennt weiß, was das bedeutet.«

21.00 Uhr: Abarbeiten der entgangenen Anrufe und Textnachrichten. »Ich habe mir für die Tour eine französische Handynummer zugelegt, damit es nicht so teuer wird.« Neben den Eltern Erika und Horst gehört Freundin Melanie zu den Dauer-Gesprächspartnern.

23.00 Uhr: Schlafen. . .  und vielleicht von der Zielankunft in Paris auf den Champs Elysees träumen.

Artikel vom 13.07.2005