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Scotland Yard jagt
die Mörder von London

Nach den Anschlägen werden 26 Menschen vermisst

London (dpa). »Es wird die größte, intensivste und gezielteste Untersuchung in der Geschichte der britischen Polizei«, zitierte der »Daily Mirror« einen ungenannten Beamten bei Scotland Yard. Demnach sind 1000 Beamte der Londoner Polizei und anderer Sicherheitsdienste auf der Spur der Attentäter, die am Donnerstag mehr als 50 Menschen in den Tod bombten.

Große Hoffnungen richten sich dabei vor allem auf die Kriminaltechniker, die in den kleinsten Trümmerstückchen nach Hinweisen auf die möglichen Täter suchen. Für Informationen über die Tat kommt fast jede Quelle in Frage. Dazu gehören etwa fast eine Million benutzter Zugfahrkarten, die die Verkehrspolizei sichergestellt hat. Sie sollen auf die Fingerabdrücke möglicher Attentäter bei ihrer Anreise nach London untersucht werden.
Andere Ermittler werden sich mehrere hundert Stunden lang Filme der zahlreichen Überwachungskameras anschauen, die in den Londoner U-Bahnstationen und an belebten Plätzen der Stadt installiert sind. »Die Attentäter sind auf ihrer Fahrt zur und von der U-Bahn ganz sicher von Kameras eingefangen worden. Weil sie nicht maskiert waren, werden wir sehr gute Bilder von ihnen bekommen, anhand derer sie identifiziert werden«, sagte Andy Hayman von der Londoner Polizei.
Kriminaltechniker haben nach Angaben der »Times« bereits säckeweise mögliche Beweismittel sichergestellt. Am Wochenende wurde das Dach des Doppeldeckers, der bei der Explosion am Tavistock Square zerfetzt wurde, untersucht. In den U-Bahn-Tunneln war die Arbeit der Fahnder besonders schwierig, weil auch Leichen der Opfer noch geborgen werden mussten. Hitze von bis zu 60 Grad, Ratten, Staub und beißender Gestank machten den Helfern zu schaffen.
Mit chemischen oder gentechnischen Untersuchungen wollen die Ermittler herausfinden, mit welcher Art von Bombe die Attentäter zuschlugen, welchen Sprengstoff und welche Zünder sie verwendeten. »Bomben sind wie Gemälde - sie hinterlassen eine bestimmte Handschrift, die Aufschluss gibt, wer das Massaker verübt hat«, erklärte ein Experte dem »Independent on Sunday«. Bei den Beweismitteln handelt es sich auch um Metallsplitter des Busses, die in den Wänden von Häusern steckten, die noch viele Meter vom Tatort entfernt stehen. Haut und Kleidung der Opfer gehören dazu.
Die britische Polizei hat ihre Kollegen in ganz Europa um die Ermittlungsunterlagen jüngster Anschläge gebeten, um diese Informationen mit den eigenen Erkenntnissen zu vergleichen. Auch die Reste der wahrscheinlich verwendeten Rucksäcke, in denen die Bomben lagen, stehen ganz oben auf der Fahndungsliste, um den Attentätern etwa durch deren Herkunftsort auf die Schliche zu kommen.
Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen wird allerdings Wochen in Anspruch nehmen, weshalb Experten vor Hoffnungen auf schnelle Fahndungserfolge warnen. »Die Kriminaltechnik hat sich in den vergangenen zehn Jahren enorm weiterentwickelt. Jetzt können wir Antworten auch von mikroskopisch kleinen Spuren bekommen, aber dies ist kein schneller Prozess«, sagt der britische Kriminalexperte Peter Yapp. Seine Hoffnung und die der Ermittler ist diese: »Manchmal machen die Attentäter einen Fehler und hinterlassen einen klitzekleinen Anhaltspunkt, obwohl sie glauben, sie haben an alles gedacht, um ihre Spuren zu verwischen.«
Auch drei Tage nach den verheerenden Bombenanschlägen ist das Schicksal von 26 Menschen ungewiss. Sie heißen Phil Beer, James Adams, Miriam Hyman oder Rachelle Yuen: Der anonyme Terror hat Namen und Gesichter bekommen. Die Augen von Yvonne Nash sind rot geweint. Ihr Freund Jamie Gordon hat sie kurz vor der Explosion des Doppeldeckers am Tavistock Square noch angerufen, seitdem bangt sie um ihn. »Die Ungewissheit ist furchtbar.«
100 000 Anrufe gingen am Tag der Attentate bei einer Notfallnummer von Scotland Yard ein. Verzweifelte Angehörige hängen in der Stadt Flugblätter mit Schnappschüssen aus dem Urlaub oder Familienfotos mit Telefonnummern auf. »Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir werden uns nicht ändern«, steht auf einem Zettel an einer U-Bahn-Station. Am King's Cross haben die Londoner ein Meer von Blumen niedergelegt, Kerzen brennen. Die Identifizierung der Leichen hat gerade erst begonnen - und kann ähnlich wie bei den Tsunami-Opfern - Wochen dauern. In einem Betreuungszentrum in Westminister sollen die Familien der Opfer und der Vermissten in diesen schweren Tagen Beistand bekommen.
Steven Desborough (28) hat das Attentat in der U-Bahn von Aldgate überlebt. Nach der Explosion bat ihn ein Arzt, auf eine junge verletzte Frau aufzupassen. Sie starb in seinen Armen. »Es tut mir so leid«, sagte er dem »Daily Mirror«. Nun sucht er die Angehörigen. »Ich möchte, dass ihre Familie weiß, dass sie nicht allein war und dass es Menschen gab, die für sie da waren, als sie starb.«

Artikel vom 11.07.2005