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Angeblicher Stromausfall
war Teil des Anti-Terror-Plans

London hatte Anschlag erwartet - Kritik an Geheimdienst und Polizei

London (dpa). Der große junge Mann im Bus fällt Richard Jones (61) gleich auf. Ständig kramt er in seiner Tasche und sieht sich angespannt um. Jones entschließt sich auszusteigen, obwohl sein Ziel noch nicht erreicht ist. Er ist ein paar Meter gegangen, da knallt es ohrenbetäubend. Als sich Jones umsieht, hat der rote Bus der Linie 30 kein Dach mehr.
Scotland-Yard-Chef Sir Ian Blair.
Da war er also, der große Terroranschlag, von dem der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone seit Jahren gesagt hatte, dass er »unvermeidlich« und »nur eine Frage der Zeit« sei. Ganz offen hatten der frühere Scotland-Yard-Chef Sir John Stevens und sein Nachfolger Sir Ian Blair immer prophezeit, die wahrscheinlichsten Ziele seien Busse und U-Bahnen zur Hauptverkehrszeit. In einer aufwändigen Übung probte die Polizei ihr Vorgehen nach einem Anschlag auf die U-Bahn. Die BBC zeigte vor einigen Monaten einen Spielfilm über einen Anschlag auf den U-Bahnhof Liverpool Street.
Es war gespenstisch, wie aus Simulation und Fiktion plötzlich Wirklichkeit wurde: Die ersten Berichte über einen »Zwischenfall« kamen am Donnerstag in der Tat vom Bahnhof Liverpool Street. Es war ein Terroranschlag wie nach einem Drehbuch.
Sofort spulte die Polizei ihren großen Masterplan ab. Er begann mit einer taktischen Lüge: Mehr als eine Stunde lang beteuerte die Bahnpolizei, das Ganze gehe auf einen Kurzschluss zurück. »Als ich das Wort ÝKurzschlussÜ hörte, wusste ich, das war ein PR-Trick«, erfuhr der »Guardian« von einer Quelle bei der U-Bahn. »Die drei Bahnhöfe sind an unterschiedliche Stromnetze angeschlossen.«
Die Polizei wollte damit eine Massenpanik verhindern. Das gelang - allerdings kam ihr dabei auch die typisch englische Gelassenheit zu Hilfe. In einem der U-Bahn-Züge, in dem eine Bombe explodiert war, drehte sich John Sandy inmitten von Rauch und Gestank erst einmal zu seinem Sitznachbarn um und fragte ihn höflich nach seinem Namen.
Das Zusammenspiel von Polizei und Notdiensten, die Versorgung der Verletzten, die Räumung der Bahnhöfe - all das klappte perfekt. Dennoch musste sich Scotland-Yard-Chef Ian Blair am Freitag fragen lassen, ob sich nicht eine gewisse Nachlässigkeit eingeschlichen hatte. Weniger als eine Stunde vor der ersten Explosion hatte er in einem Interview noch beteuert, für die Sicherheit der Olympischen Spiele garantieren zu können.
Auch der Inlandsgeheimdienst MI5 steht nicht gut da: Er hatte im vergangenen Monat verkündet, noch nie seit dem 11. September 2001 sei die Terrorgefahr in Großbritannien so niedrig gewesen wie jetzt. Der Terroralarm wurde auf die dritthöchste Stufe gesenkt.
Nach eigenem Eingeständnis ahnte Scotland Yard nichts von der konkret bevorstehenden Gefahr. 1500 Londoner Polizisten wurden für die Dauer des G8-Gipfels sogar in Schottland stationiert. Dabei, so wundert sich der Terror-Experte David Capitanchik, sei doch die Strategie von Al Kaida: »Warum den Tiger angreifen, wenn es so viele Schafe gibt?«
Die Täter sucht Scotland Yard jetzt vor allem unter muslimischen Briten, jungen Männern, deren Eltern etwa aus Pakistan eingewandert sind, die aber selbst schon in Großbritannien geboren wurden. Die ursprünglich kleine Gruppe von Fanatikern hat nach Erkenntnissen von Geheimdienstchefin Elizabeth Manningham-Buller durch den Irak-Krieg neuen Zulauf bekommen. Eine Umfrage hat kürzlich ergeben, dass 13 Prozent der britischen Muslime neue Anschläge auf Amerika für gerechtfertigt halten.

Artikel vom 09.07.2005