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Lernen klappt nur im Guten

Neurowissenschaftler Prof. Dr. Manfred Spitzer referierte im ZiF

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Es könnte doch eigentlich egal sein zu wissen, mit welchem Hirnareal wir denken - Hauptsache, wir denken. Neurowissenschaftler aber wollen es genauer wissen, weil es sie interessiert, was wir sind und warum. Und weil sie gerne konkrete Tipps geben und den Menschen sagen, welcher Babysitter geeigneter ist: die Oma oder der Farbfernseher.

Über Gehirnforschung und Lernen hat ein renommierter Vertreter seiner Zunft, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Ulm, nun im Zentrum für interdisziplinäre Forschung gesprochen. Und weil ihm sein Ruf vorausgeeilt war, platzte der Plenarsaal schier aus allen Nähten, so dass sein Vortrag auch in den Vorraum übertragen werden musste.
Diesem Ruf wurde Spitzer gerecht: Eloquent, in Kenntnis dessen, wie der Mensch begreift, was er begreifen soll, trug der Wissenschaftler Fakten und Befunde vor und scheute auch die Schlussfolgerung nicht. Der Arbeitsschwerpunkt des Ärztlichen Direktors der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, der Medizin, Psychologie und Philosophie studierte, ist die Lokalisation von geistiger Arbeit und Empfindungen im Gehirn mit Hilfe moderner funktionell bildgebender Verfahren.
Mit einem Clou fing der Vortrag an: Spitzer zeigte anhand von Aufnahmen, mit wie wenig Hirn der Mensch durchs Leben kommt. Zum Beispiel ein siebenjähriges Mädchen, dem mit drei Jahren wegen einer schweren Hirnentzündung eine Hirnhälfte entfernt wurde: Sie lebt ein normales Leben und spricht zwei Sprachen. Und ein 55-jähriger Lkw-Fahrer, der »eher zufällig unter den Scanner geriet«, hat ein enormes Vakuum im Kopf. »Das zeigt: Das Gehirn ist unglaublich lernfähig - so sehr, dass man mit der Hälfte auskommt, ohne es zu merken.«
Was lästerlich klang, meinte Spitzer ernst: Ein Gehirn, das gefordert wird, passt sich an. Nötig dazu sind aber Signale - Informationen -, die von den Synapsen (kleinen Verzweigungen an den Neuronen) auf die Nervenzellen übertragen werden. »Wir können heute filmen, dass um so stärkere Synapsen wachsen, je mehr ein Neuron gebraucht wird.« Mit anderen Worten: Die Hardware (das Gehirn) ändert sich in Abhängigkeit von der Software, die darüber läuft.
Das wiederum bedeutet, dass die Informationen im Gehirn bestimmte Wege bahnen - wie Spuren im Schnee. Und wenn sich Wissen gesetzt hat, ist der Mensch flexibel genug, es anzuwenden. Spitzer machte die Probe aufs Exempel: Das Publikum wurde aufgefordert, das Verb »partieren« ins Partizip Perfekt zu setzen. Prompt kam die richtige Antwort (»wir sind partiert«), obgleich es dieses Wort im Deutschen nicht gibt. »Aber jedes Kind weiß, dass Verben, die auf -ieren enden, ihr Partizip Perfekt ohne die Vorsilbe ge- bilden. Dabei hat es diesen Merksatz nie gelernt. Und dennoch hat es die komplette deutsche Grammatik im Kopf!«
Das bedeutet aber eben auch, dass nicht nur sinnvolles Wissen abgespeichert wird: »Es werden auch falsche Spuren gelegt, und daraus resultiert falsches Verhalten.« Um 22 Uhr säßen in deutschen Landen noch 800 000 Kinder vor dem Fernsehgerät, informierte Spitzer seine Zuhörer. »Und sie sehen Morde und Gewalt. Wer weiß, wie das Lernen funktioniert, der weiß, was das bedeutet.« Eine Stunde Gewaltprävention in der Schule komme dagegen nicht an. Und erwiesenermaßen, belegte Spitzer mit wissenschaftlichen Untersuchungen, ist die Lerngeschwindigkeit (und damit Prägung) im ersten Lebensjahrzehnt rasant. »Wenn ein Erwachsener ÝTatortÜ schaut, macht das nichts. Bei einem Sechsjährigen ist der Effekt anders!«
Herbe Kritik übte der Neurowissenschaftler am Computer für Zwölfjährige (»Die Schulleistungen werden dadurch verschlechtert, denn zum Vokabellernen wird er ja kaum genutzt.«) und an der Atmosphäre in deutschen Schulen: »Flächendeckend ist Unterricht ironisch, sarkastisch und zieht herunter.« Schüler müsse man nicht groß motivieren: »Es reicht, nicht zu demotivieren.«
Selbst ein völlig neutraler Unterrichtsstoff, der wegen des Unterrichtsstils mit negativen Emotionen gelernt werde, sei im so genannten Mandelkern des Gehirns für immer verknüpft mit Angst. Bildgebende Verfahren bewiesen auch dies. »Kreativität ist im späteren Leben bei diesem Thema daher nicht mehr zu erwarten.« In großzügiger Atmosphäre, mahnte Spitzer, bleibe Stoff besser hängen und führe zu kreativem Umgang damit.
Übrigens: Eindeutig der bessere Babysitter ist die Oma. Mit ihr in der Familie verdoppelt sich aufgrund ihres im Laufe des Lebens angesammelten Wissens die Chance des Neugeborenen, das Erwachsenenalter zu erreichen.

Artikel vom 15.07.2005