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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Wer noch vor wenigen Jahren außerhalb der Gottesdienstzeiten eine Kirche betreten wollte, die Türen jedoch verschlossen fand, konnte einigermaßen sicher sein, sich an einem evangelischen Gotteshaus zu befinden. Katholische Kirchen dagegen waren tagsüber meistens geöffnet. Inzwischen setzt sich aber auch im Protestantismus die Erkenntnis durch, dass sakrale Räume, selbst wenn in ihnen nichts geschieht, eine wohltuende Wirkung ausüben. Daher werden die Gemeinden ermutigt, ihre Kirchen an Werktagen zugänglich zu machen, und etliche sind diesem Aufruf inzwischen gefolgt.
Wie die Resonanz zeigt, ist dafür ein Bedürfnis vorhanden. Menschen treten ein, um Stille zu finden, zu beten, eine Kerze anzuzünden oder aber, um sich einen Eindruck von dem Raum zu verschaffen und seine Kunstwerke zu betrachten. Eltern mit Kindern sind häufige Gäste. Besonders den Kleinen merkt man es dabei an, dass sie in eine andere Welt eingetaucht sind, die sie staunend und fragend auf sich wirken lassen.
Unter Kirchenräumen befinden sich architektonische Juwelen. Als solche sprechen sie eine eigene, eine eindringliche Sprache. Allein der Blick nach oben, in die hohen Gewölbe, kann den oft kleinlichen, engen und manchmal auch trüben Gedanken Flügel verleihen. Das strahlt, selbst wenn das nicht jeder sofort bemerkt, in den Alltag zurück und wirkt in ihn hinein. Ebenso vermag er aus niedergedrückten Gefühlen und aus Traurigkeit emporzurichten und zu sagen: Das ist doch nicht dein ganzes Leben, was dich gerade beschwert, nicht deine ganze Zukunft. Es gibt etwas darüber hinaus. Vor allem steht einer darüber, und der sieht nicht über dich hinweg, der sieht dich, der beachtet dich, der nimmt Anteil an deinem Leben. Der bewacht und behütet dich. Du bist auf deine gegenwärtige Gemütslage nicht festgelegt. Du kannst vielmehr darauf gespannt sein, was Gott alles noch mit dir vorhat. Er hat Möglichkeiten, die du noch gar nicht ahnst.
Die Ausrichtung einer Kirche nach Osten hin hat uns ebenfalls in unser vergängliches, dem Tode unterworfenes Leben Entscheidendes zu sagen. Denn im Osten geht am frühen Morgen die Sonne auf. Sie aber ist ein Symbol der Auferstehung Jesu Christi und damit der Ewigkeit. Allein diese Blickrichtung sagt: Du gehst nicht nur auf dein sicheres Ende zu, sondern dein Weg führt dich weiter, an ein herrliches Zielt. Auf dicht wartet Gott selbst.
Selbst die Steine, so stumm sie sind, können reden, und das gerade, wenn sie sehr alt sind. Wir haben, sagen sie, mehr erlebt als du. Wir haben Menschen weinen und lachen gesehen, längst bevor du geboren warst. Wir kennen sie, wenn sie außer sich vor Glück und Freude sind, und wir wissen ebenfalls, wie sie sich bei Katastrophen verhalten, wie sie dann hergelaufen kommen, wie sie auf persönliche Erschütterungen reagieren. Daran hat sich im Laufe der Zeiten fast nichts geändert, auch in der Moderne und der Postmoderne nicht Drain sind sich die Menschen gleichgeblieben In unseren Mauern, erzählen die Steine weiter, sind vor euch Unzählige getröstet und ermutigt worden. Außerdem haben wir gute und schwache Predigten gehört. Trotzdem verdankt sich die Gemeinde weder den einen, noch wurde sie von den anderen zugrunde gerichtet. Darum wird die Kirche Jesu Christi auch euch und eure Nachkommen überdauern und überleben und bis ans Ende der Zeit weiterbestehen.
Auch Menschen ohne kirchliche Bindung sind oft intuitiv davon ergriffen, dass von sehr alter Kirche etwas Besonderes, Faszinierendes, ja geradezu Überirdisches ausgeht. Vielleicht spüren sie sogar: »Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht.« Wir können zwar Gott überall in unserer Nähe wissen, aber es gibt sehr wohl Orte, an denen wir ihm näher sind als anderswo.

Artikel vom 09.07.2005