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Zum Abschied fein gemacht
»Letzte Edition« des Käfers kommt aus Mexiko und hat viel zu erzählen
Der Käfer als solcher hat im Laufe der Jahrtausende alle erdenkbaren Lebensräume erobert. Sein Artenreichtum ist riesig. Je nach Lebensweise und Lebensraum haben sich die unterschiedlichen Exemplare entwickelt und den Gegebenheiten angepasst.
Klein, groß, schwimmfähig, flugtauglich, flink, träge, sympathisch, abstoßend, schillernd, unscheinbar. Auch bei der Ernährung sind sie meist wenig wählerisch. Ob Pflanzen, anderes Getier oder auch Aas und Dung - alles wird verspeist.
Eine ganz besondere Spezies der Gattung Käfer erblickte am 5. Februar 1936 das Licht der Welt. Dieses Exemplar steht auf vier Rädern, wird von einem Motor angetrieben und ernährt sich dementsprechend von Benzin. Gerade einmal drei dieser Exemplare sind es, die in Wolfsburg den Grundstein für eine spätere Käfer-Invasion legen. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.
Während der Kriegsjahre kann sich das Tierchen nicht weiterentwickeln. Erst im Dezember 1945 krabbelt der Käfer wieder ans Licht der Öffentlichkeit. 55 Nachfahren des Prototypen-Trios läuten die eigentliche Evolution dieser Käfer-Gattung ein. Mit der Vermehrung klappt es zunächst noch nicht so recht, doch 1948 sind es schon 20 000 rollende Vertreter, die den »Larven« entschlüpfen. 21 529 464 Käfer sollen es schließlich werden, die im Laufe der Zeit rund um den Erdball auftauchen.
Inzwischen aber steht der motorisierte Käfer auf der roten Liste der bedrohten Arten. Es gibt keinen Nachwuchs mehr. Irgendwie haben sie die Anpassung an die modernen Zeiten verpasst. Wer heute einen Käfer sieht, freut sich fast so, wie sich Kinder über den Anblick eines Dinos begeistern. Auch wenn die Käfer-Zeiten offiziell erst am 30. Juli 2003 endeten - damals rollten in Mexiko die letzten Modelle von den Bändern - in Deutschland gehört dieser Volkswagen schon lange zu den selteneren Anblicken auf den Straßen. Davon konnte sich jetzt auch der vorletzte in Mexiko gefertigte Wagen überzeugen. Er hatte die lange Reise unternommen, um sich im Land seiner Vorfahren umzusehen und nach vielleicht noch vorhandenen Brüdern und Vettern zu forschen. Fein säuberlich hat dieser Käfer der »Ultima Edicion« (letzte Edition - so nennt sich dieser nach Mexiko ausgewanderte Familienzweig, nachdem es keinen Nachwuchs mehr gibt) notiert, was er so erlebt hat und wie ihn die noch lebenden Angehörigen der Käfer-Familie begrüßten. Diese Zeitung hatte das große Glück, diese Aufzeichnungen in die Hände zu bekommen:
»Ich hatte ja schon viel gehört und gelesen über meine Vorfahren. Ganz am Anfang hatten sie echt Mühe, voran zu kommen, mit ihren 22,5 PS. Später als es 30, 34, 40, 44 und bei einigen sogar 50 PS wurden, da waren sie schon recht zügig unterwegs, konnten mit den anderen motorisierten Objekten durchaus Schritt halten. Und auch optisch ging die Entwicklung zweifelsohne mit der Mode. So machte das Brezelfenster der ersten Generation bald einem größeren Lichteinlass Platz, und die Außenhaut wurde farbenfroher und mit Chromteilen aufpoliert. Die ganz feinen unserer Art hatten sogar Weißwandreifen. Und da ich nun einmal zu den wirklich absolut Letztgeborenen unserer Gattung zähle, habe ich mich entsprechend fein gemacht. Als Ultima Edicion glänzen an mir ebenfalls Chromteile, und meine Reifenflanken sind in edlem Weiß gehalten.
Wenn ich so bei meiner Reise übers Land gerade auch hier in Ostwestfalen-Lippe meinen Vorfahren begegnete, da wurde ich überall herzlich gegrüßt. Viele schickten mir Lichterblitze aus ihren Augen - fast so, als wären sie ein wenig neidisch auf mein schickes Blechkleid. Manchmal hielten sie auch an, und wir haben auf einem Parkplatz ein wenig erzählt. Sie über ihr oft schon so langes Leben (einer war schon älter als 45 Jahre und sah immer noch wie ein junger Hüpfer aus) und ich über meine Herkunft und meinen Werdegang.
Festgestellt haben wir dabei immer, dass sich im Laufe der Jahrzehnte weder in unserem Inneren noch äußerlich wirklich viel verändert hat. Zwar wurde der Motor stärker, doch es war immer ein Boxer. Gut, auch die Bremsen wurden verbessert, das Getriebe überarbeitet und die Sitze machte man ein wenig bequemer. Aber nicht viel. Dafür verschwand der Stauraum hinter der Rückbank, in dem sich früher die Kinder immer so gerne einkuschelten. Auf diesen Luxus müssen die Kleinen auch bei mir leider verzichten. Ist ja vielleicht auch sicherer. Ebenso fehlt bei mir die Halteschlaufe an der Säule hinter der Tür.
Unsere ursprüngliche Form haben wir indessen weitestgehend über die Zeit gerettet. Der runde Käferrücken zeichnet unseren Stamm ebenso aus wie die ähnlich geformten Kotflügel und die Haube vorn. So richtig gut kommen wir damit heute allerdings nicht mehr durchs Leben. Das musste selbst der Zweig unserer Familie erkennen, der sich erst vor wenigen Jahren entwickelte und sich hochmodern New Beetle nennt. Diese Brüder und Schwestern haben es ebenfalls nicht leicht, sich gegen die anderen Formen der motorisierten Artgenossen durchzusetzen. Sie haben allerdings den Vorzug, dass sie zumindest technisch auf dem neuesten Stand sind.
Wir dagegen sind da noch vom alten Schrot und Korn. Fast mitleidig betrachten uns die anderen mit ABS, Airbags und ESP ausgestatteten Gefährte, wenn sie sehen, dass wir uns sogar noch ohne Servolenkung durchs Großstadtgewühl mühen. Mit dem ganzen anderen modischen Schnickschnack haben wir eh nichts zu tun - obwohl, wenn man ganz ehrlich ist, für die Sicherheit sind solche Dinge schon ganz gut. Und wenn schon keine Klimaanlage, eine echte Lüftung, um die Scheiben nicht beschlagen zu lassen, wäre auch nicht schlecht.
Doch mit uns heißt es zurück zu den Wurzeln. Autofahren wie zu Omas Zeiten. Das heißt kräfig zupacken beim Lenken, kräftig drücken beim Bremsen und kräftig die Stimme erheben, beim Unterhalten. Denn leise geht's bei uns im Inneren nicht ab. Aber auch nicht sehr schnell. Bis 120 geht's noch ganz gut, dann aber fehlt uns betagten Herrschaften schon die Kraft.
Macht nichts. Dafür dürfen wir uns eben über viele freundliche Blicke freuen. Die tun auch gut. In Zukunft jedoch werden immer weniger von uns solche Blicke erhaschen. Schließlich gehören wir zu einer aussterbenden Art. Kein Nachwuchs mehr. Auch hier nicht in Deutschland, weit weg von unserem letzten echten Lebensraum in Mexiko.
Also werde ich mich jetzt schonen, um noch möglichst lange zu überleben. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann einmal. Passen Sie gut auf, ich gehöre zur Ultima Edicion.«Wolfgang Schäffer

Artikel vom 30.07.2005