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Aber ohne sie würde es nicht gehen. Trotzdem überfielen ihn erstmals zwiespältige Gefühle.
Er schwang sich sein Gepäck über die Schulter und folgte dem Alten, der am Ufer entlang mit einem Sack auf dem gekrümmten Rücken seiner Warf entgegenwanderte.
Rouwert Wollesen freute sich, Hansen zu sehen, und gab ihm sein altes Zimmer. »Du hast Glück, dass du heute gekommen bist«, sagte er, breit grinsend. »Für morgen ist ein Gast angesagt, dem ich es sonst gegeben hätte.«
»Zeitungsschreiber?« Hansen rümpfte die Nase. Solche Begegnungen wollte er jetzt gerade ganz bestimmt vermeiden.
»Wo denkst du hin!« Rouwert lachte glücklich. »Ein echter Gast, der sich erholen will. Hat so viel Gutes von den Halligen gehört. Und im August kommt ein Ehepaar.«
»Donnerwetter. Das ist mal eine erfreuliche Nachricht«, sagte Hansen anerkennend.
»Nicht wahr? Hier wird's noch zugehen wie in Wyk.« Rouwert begann erneut unter so lautem Geklirre Gläser zu spülen, dass man um sie fürchten musste, und Hansen verließ lächelnd die Gaststube.
Er war noch nicht im oberen Stockwerk angekommen, als die Tür zur Gaststube mit lautem Krachen ins Schloss fiel.
»Wir haben alles über deine Nachforschungen wegen dieses Toten in den Zeitungen gelesen«, rief ihm Rouwert vom Fuß der Treppe mit hörbarem Stolz hinterher. »Warum bist du der Sache nachgegangen, wo sich sonst kein Aas um den Kerl geschert hat?«
»Mumme Ipsen hat mich beauftragt.«
»Mumme?« Der Wirt hörte sich ungläubig an.
Hansen stellte sein Gepäck neben sich und setzte sich auf eine Stufe der steilen Treppe. »Ja, Mumme. Er hatte Sorge, dass die Gäste die Halligen meiden werden, weil sie um ihr Leben fürchten. Schließlich hat Tete Friedrichsen lange die Auffassung vertreten, dass der Tote mit mir verwechselt wurde. Und ich war ja nicht nur dienstlich hier, sondern auch als Badegast.«
»Kann ich beschwören«, bestätigte Rouwert, dem Hansen für die dienstlichen und die privaten Übernachtungen zwei getrennte Quittungen abverlangt hatte. »Ich habe dich schwimmen sehen.«
»Eben.«
»Ich habe schon öfter gefunden, dass Mumme Ipsen vieles besser von der Hand läuft als unserem Tete«, sagte der Wirt nachdenklich, »aber am eigenen Leibe hatte ich bis jetzt noch nicht erfahren, dass er schlauer ist.«
»Er ist das, was man von einem Ratmann erwartet«, sagte Hansen diplomatisch. »Er denkt voraus und handelt dementsprechend. Zu euer aller Nutzen.«
Rouwert kratzte sich am Hinterkopf. »Ich glaube, das werden wir Nordmarscher mal unter uns besprechen. Und dann werden wir ja sehen, wo unser Nutzen ist.« Er drehte sich auf den Hacken um, und kurz danach schlug die Tür ins Schloss.
Am Nachmittag war Sönke Hansen am Ufer. Das Wasser blinkte weit draußen, so dass er nicht vorhatte zu schwimmen, aber er zog die Hose aus, um barfuß über das Sandwatt zu schlendern. Es würde herrlich sein, und er würde es in vollen Zügen genießen. Seine nackten Zehen auch.
Als er sich auf die Uferkante setzte, sah er eine wild gestikulierende Gestalt im Galopp über die Fennen heranpreschen. Wirk.
»Sönke«, keuchte Wirk, als er heran war, und ließ sich neben Hansen fallen. »Endlich! Ich habe den Großeltern den Bericht in der Zeitung zwei Mal vorgelesen, jedes Wort! Großmutter will wissen, wie Fräulein Gerda aussieht. Du sollst kommen und sie ihr beschreiben. Sie meint, dass eine Frau, die einen Helden liebt, etwas ganz Besonderes sein muss.«
»Oh, Wirk«, sagte Hansen verlegen, »Gerda ist wunderbar, aber alles andere ist Quatsch!«
»Zeig mal deine Schusswunde«, verlangte Wirk, ohne sich auf eine Diskussion mit Hansen einzulassen.
Schweigend zog Hansen sein weißes Hemd aus. Noch war es sauber und trug Frau Godbersens scharfe Plättfalten, so dass er es behutsam zusammenlegte und auf die Hose packte. Wirk inspizierte seinen Arm. »Doll! Jetzt habe ich schon eine tödliche Stichwunde und eine fast tödliche Schusswunde gesehen. Das hat keiner von den anderen!«
»Ist doch nur ein Kratzer, Wirk«, versetzte Hansen unwirsch.
Aber er verstand, dass der Junge immer noch Anerkennung aufzuholen hatte. »Wie steht es mit dem Kraulen?«
»Ich bin der Schnellste. Einer von meinen Freunden ist ganz gut, aber noch nicht wie ich«, berichtete Wirk stolz.
»Na, schön.« Hansen konnte sich nicht erinnern, dass Wirk früher von Freunden gesprochen hatte. Es schien sich ziemlich viel geändert zu haben. Ihn freute es. »Gehst du mit aufs Watt?«
Wirk sprang auf die Füße. »Geht nicht. Morgen kommt ein sehr hungriger Gast. Rouwert braucht heute noch zwei Eimer Sudden. Und außerdem habe ich den Auftrag, zwei Körbe Porren zu liefern. Die Frauen sind alle bei der Heuernte, deshalb soll ich É«
»Soll ich dir mit der Glüb helfen? Zu zweit sind wir schneller«, sagte Hansen und vermied taktvoll eine Bemerkung über Wirks magere Gestalt. Er arbeitete hart für sein Alter.
»Kannst du denn mit der Glüb umgehen?«, fragte Wirk zögernd.
»Ja, warum denn nicht? Wenn ich schon mit euren Rindviechern klarkomme, werden die Porren mich nicht schrecken.«
Wirk errötete. »Hab's nicht so gemeint. Hoffentlich schimpft Großmutter nicht mit mir. Wo du doch jetzt berühmt bist.«
»Aber Wirk!«, sagte Hansen ungeduldig. »Ich habe dir doch erklärt É«
»Großmütter sehen das anders als wir Männer«, unterbrach Wirk ihn. »Du musst dich ein bisschen bemühen, sie zu verstehen.«
Hansen gab auf. Wirk, der große Kenner von Großmüttern. Grinsend sah er dem Jungen nach, der mit langen, schlaksigen Gliedmaßen davonjagte, und sprang dann auf den Sand hinunter.

Kapitel 27
Als Hansen sich am nächsten Tag nach dem Porrenfischen von Wirk verabschieden wollte, tat der Junge sehr geheimnisvoll, rückte aber endlich mit strahlendem Gesicht mit der Sprache heraus. »Großmutter hat einen Brief bekommen.«
»Aha«, sagte Sönke Hansen.
»Von Mumme. Eine Anfrage aus Düsseldorf in Deutschland, stell dir vor! Wir werden jetzt einen eigenen Logiergast haben! Er bekommt den Pesel für sich, und ich schlafe im Hock bei Nachbarn. Der Herr beabsichtigt, einen eingeborenen Schiffer bei der Arbeit zu malen. ReaÉ, realistisch, schreibt er. Das Realistische muss er mitbringen, aber der Schiffer bin ich - in Großvaters Austernboot«, sagte Wirk, fast platzend vor Wichtigkeit. »Ich segele sowieso besser als Bocke.«
»Toll«, sagte Hansen und klopfte ihm auf die Schulter. »Aber wenn er einen Pompon auf der Mütze haben sollte, wirfst du ihn über Bord.«
»Wenn der Gast zahlt, hat er das Recht auf jeden Puschel, der ihm gefällt«, widersprach Wirk würdevoll und stolzierte mit den Händen in den Hosentaschen davon.
Hansen sah ihm grinsend nach. Kurz bevor der Junge außer Hörweite geriet, rief er ihm durch die zusammengelegten Hände nach: »Deine Porren, Wirk! Soll ich sie ins Wasser zurückschütten?«
Da war es mit Wirks mühsam zur Schau getragenem Stolz vorbei. Er jagte zurück. Als er bei Hansen angekommen war, brachen sie beide in lautes Gelächter aus.
Mumme Ipsen hatte die Halligleute zu einer Besprechung in den Langenesser Schulraum eingeladen. Einziges Thema war natürlich die Bedeichung. Eine Vorbesprechung zwischen ihm und Sönke Hansen hatte es nicht gegeben, weil Mumme sich wegen der Heuernte für unabkömmlich erklärt hatte.
Unbehagen befiel Hansen deshalb, als außer den Langenessern und Butwehlern auch die Nordmarscher eintrafen. Tete Friedrichsen, der sich mit gesenktem Kopf und den Händen in den Hosentaschen durch das Klassenzimmer schob, verunsicherte ihn mehr, als er wahrhaben wollte. Als Letzte kam Jorke, die ihm verstohlen zublinzelte und sich dann neben Tete in der zweiten Reihe niederließ.
»Liebe Landsleute«, begann Ipsen kurz entschlossen, »wir haben lange genug diskutiert, ob wir einer Bedeichung zustimmen wollen oder nicht. Heute ist Bauinspektor Hansen wieder unter uns, und heute wird endgültig entschieden!«
»Genau!«, rief Jorke aus und paffte hörbar an der Pfeife, die sie gerade angezündet hatte. Eine Rauchwolke hüllte sie ein, und Tete hüstelte demonstrativ.
»Gibt es noch etwas Neues hinzuzufügen, Herr Bauinspektor?«, erkundigte sich Ipsen.
Der Tabakrauch schien sich in den Duft von frischem Heu in Jorkes Alkoven zu verwandeln, und vor Hansens Augen stand das Bild der Heu machenden Halligleute. Die Verantwortung, die er auf sich lud, dünkte ihn auf einmal riesengroß. Er nickte mit einem Kloß im Hals und räusperte sich. »Die Durchdämmung der großen Priele wird natürlich Folgen haben, wir sprachen ja schon darüber É Eine der besonders einschneidenden wird sich für die Heuernte ergeben, weil die Boote dafür wohl nicht mehr benutzt werden können.«
»Herr Bauinspektor«, unterbrach ihn Ipsen freundlich, aber bestimmt, »wir wissen das. Zur Beruhigung aller: Ich habe mich inzwischen auf dem Festland umgehört und mehrere Bauern gefunden, die uns Pferde für die Erntezeit vermieten würden. Wir sind nicht etwa zu beschränkt, um uns umstellen zu können, Sönke.«
»Auf die Idee wäre ich auch nie gekommen«, versicherte Hansen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.07.2005