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Im nächsten Waldstück schlug er sich abseits ins Gebüsch, um die Kleidung zu wechseln. Für den Besuch bei einem Reeder waren ein schwarzer Anzug und ein weißes Hemd mit steifem Kragen angemessen, aber nicht auf Wanderschaft. Er war glücklicherweise für alles gerüstet.
Gelegentlich kamen ihm Fuhrwerke entgegen, andere überholten ihn. Aber er wagte nicht, um Mitfahrt zu bitten, denn in dieser abgelegenen Gegend würde man sich an einen hochgewachsenen weißblonden Mann mit deutschem Akzent gegebenenfalls erinnern.
Ein kleines Schild, auf dem lediglich Nielsens angegeben war, lenkte ihn von der Hauptstraße in einen dichten Wald. Als dieser sich plötzlich vor ihm öffnete, blieb Hansen verdutzt stehen. Vor ihm lag ein ganzes Dorf, Gebäude reihte sich an Gebäude.
Er ging mit sich zu Rate, ob er sich erneut umziehen sollte, um als potentieller Waffenkäufer in Erscheinung zu treten. Aber dazu gehörte eine eigene Kutsche, und ohne sie würde er möglicherweise Misstrauen auslösen.
Letztendlich beschloss er, sich als zufälliger Besucher umzusehen, ohne sich vorzeitig bemerkbar zu machen.
Hansen begann die Fabrik in gebührendem Abstand zu umrunden, immer in der Deckung des Waldes hinter sich. Als Erstes stellte er fest, dass die eintönig aussehenden kleinen Hütten aus Ziegelstein, die man für Wohnhäuser halten konnte, leer standen.
Plötzlich ertönte in einem mit hohem Schornstein versehenen Gebäude ein ohrenbetäubender Lärm. Hansen kauerte sich erschrocken hin, bis er angesichts der drei Männer, die das Haus in ein Gespräch vertieft verließen, begriff, dass hier Experimente mit Schusswaffen durchgeführt wurden.
Als sie ein anderes Gebäude betreten hatten, bewegte sich Hansen behutsam weiter. Das Rad einer Wassermühle kam in Sicht, und das stampfende Geräusch, das er schon am Waldrand gehört hatte, wurde lauter. Offenbar war hier das Hammerwerk für die Bearbeitung des Metalls.
Auf dem Weg, den er selbst gekommen war, ratterte ein Pferdefuhrwerk heran und hielt vor einem länglichen Gebäude, das einer halboffenen Werfthalle glich. Unverzüglich liefen mehrere Männer in einheitlichen grauen Arbeitsanzügen herbei und begannen, flache schwere Platten von der Ladefläche herunterzuhieven, die nach wenigen Minuten entladen war. Die Pferde trabten an, um wieder im dunklen Tunnel der Zufahrt zu verschwinden.
Zweifellos war alles ausgezeichnet organisiert. Keinesfalls war dieses eine heruntergekommene kleine Waffenschmiede. Hansen gewann zunehmend die Überzeugung, dass es sich um einen hochmodernen Betrieb handeln musste, der im Verborgenen arbeitete.
Einige Meter weiter kam ein zweistöckiges Fachwerkgebäude in Sicht. Vor einer Rabatte mit roten und gelben Stockrosen stand ein Automobil, das Hansens Herz zum Stolpern brachte.
Zumindest aus der Ferne glich es haarscharf einem von Nielsens Autos. Ohne Bedenken beschloss er, sich den Wagen anzusehen. Was sollte ihm schon passieren? Nielsen kannte ihn nicht. Und das Gelände war weder durch Zäune noch durch Schilder als privat gekennzeichnet.
Hansen stellte seine Tasche neben dem Holundergebüsch ab, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte aus der Deckung heraus. Als er den Platz halb überquert hatte, fiel ein einzelner Schuss.
Man überprüfte also die Gewehre nicht nur mittels Salven, sondern auch als Einzelanfertigung, stellte Hansen fest.
Danach erreichte der Schmerz seinen Kopf.
Hansen stürzte zurück in das Unterholz und inspizierte bestürzt seinen linken Arm. Der Jackenärmel war am Oberarm aufgeschlitzt, und darunter brannte es höllisch. Zum Glück floss kaum Blut.
Mit zitternden Händen bog er die Äste auseinander und spähte zu den Gebäuden hinüber. Dort war alles ruhig geblieben. Schüsse alarmierten hier niemanden.
Aber dann rannte Fiete Rum über den Platz und die Treppe zum Hauptgebäude hoch. Hansen folgte ihm mit ungläubigem Staunen und begriff endlich. Der Kerl war ihm aus Flensburg im Auto des Kontors gefolgt. Er war nicht nur Zuträger, sondern hatte auch andere Aufgaben! Hansen hatte ihn zu sehr auf die leichte Schulter genommen.
Er stemmte sich hoch und rannte gebückt davon. Seine Beine schienen ihm etwas wackelig zu sein.
Liiwer düüdj as sloow, lieber tot als Sklave, war der Wahlspruch der Nordfriesen. Aber im Augenblick hätte Hansen es vorgezogen, von Nielsens Sklavenglocke in den Feierabend gerufen zu werden. Alles andere war nur Theorie.
Erschöpft und atemlos erreichte Hansen die Straße, die nach Hadersleben führte. In beiden Richtungen waren Fahrzeuge unterwegs. Nervös sah er sich um, während er voranmarschierte, so schnell er konnte. Vielleicht würde ihn jemand mitnehmen.
Eine gutbürgerliche Kutsche ließ er passieren. Dessen Besitzer stand mit den Nielsens vermutlich auf Du und Du. Hinterdrein schlurfte ein kleines Pferd mit grau behaartem Maul und weißem Fesselbehang, das eine eisenbereifte Karre zog. Auf der Ladefläche sah er einen Stapel zusammengefalteter Säcke.
Hansen konnte nicht widerstehen und hob die Hand.
Der Fahrer, der so uralt wie sein Pferd zu sein schien, aber ein pfiffiges Gesicht hatte, parierte durch. »Willst du mit?«, fragte er etwas erstaunt.
Hansen war so außer Atem, dass er kein Wort herausbrachte und nur nickte.
Der Kutscher zeigte mit dem Daumen zum Wald, hinter der die Fabrik lag. »Bist du vor denen abgehauen? Setz dich neben mich. Du kannst erzählen, was passiert ist, wenn du zu Atem gekommen bist.«
Hansen nickte matt und kletterte mit Hilfe des Bauern, oder was immer er war, dankbar auf die Sitzbank.
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als der Fahrer mit gerecktem Hals nach vorne Ausschau hielt. »Wir kommen gleich an den Zufahrtsweg von Nielsens. Die bekommen öfter um diese Zeit ihre Eisenlieferungen. Wenn du wirklich vor denen auf der Flucht bist, wäre es besser, du würdest dich unter die Säcke auf der Ladefläche verziehen.«
»Danke. Der Wagen ist schon durch«, brachte Hansen heraus.
»Dann ist es ja gut.«
»Die haben auf mich geschossen«, machte sich Hansen zwischen zusammengebissenen Zähnen endlich Luft. »Ich hatte mein Anliegen noch nicht einmal vorgebracht.«
»Es wird Zeit, dass denen endlich das Handwerk gelegt wird«, schimpfte der Fahrer sofort los. »Wir Bauern haben uns einen Rechtsanwalt genommen.«
»Donnerwetter! Da muss es euch aber ernst sein!«
»Davon darfst du ausgehen«, stimmte der Bauer zu und ließ über dem Rücken seines Pferdchens die Peitsche schnalzen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Das hört sich nach einem Automobil an!«
Nielsens Auto! Hansen rollte sich nach hinten und schaffte es gerade noch, die Kartoffelsäcke über sich zu werfen, als der Wagen auf dem Zufahrtsweg der Fabrik auf die Landstraße herausholperte und die Richtung nach Hadersleben einschlug.
Auf dem Rücksitz saß Fiete Rum. Das Auto verschwand um eine Biegung, und Hansen kroch wieder nach vorn.
»Suchen sie dich so vornehm?«, fragte der Bauer mit einem erstaunten Seitenblick.
»Scheint so.« Hansens Gefühle schwankten zwischen Empörung und Ungläubigkeit. Er konnte kaum glauben, dass er wirklich verfolgt worden war, und doch war es so. Aber ohne Zeugen gab es nicht einmal jemanden, den er anzeigen konnte. Die Bemerkung des Bauern fiel ihm wieder ein. »Warum führt ihr einen Rechtsstreit gegen die Fabrik?«
»Wegen des Wassers«, sagte der Bauer wutentbrannt. »Die sammeln für ihre Hammermühle im Winter jeden Tropfen Wasser und stauen es auf. Dadurch versumpfen unsere Felder so, dass sie für den Anbau von Feldfrüchten unbrauchbar werden. Aber Nielsen weigert sich nicht nur, Entschädigungen zu zahlen, er antwortet nicht einmal auf unsere Beschwerden.«
»War das denn nicht immer so?«
»Anscheinend brauchen sie jetzt mehr Wasser als in den Jahren davor.«
»Obwohl sie weniger Waffen als früher herstellen?«
Der Fahrer grunzte abfällig. »Wer sagt das?«
»Ich dachte«, antwortete Hansen erstaunt. »Auf dem Fabrikgelände waren so viele leere Gebäude.«
»Das sind doch nur die ehemaligen Wohnhäuser und Werkstätten der Leute. Die haben früher alles selbst hergestellt. Bäckerei, Brauerei, Schankstube und Ziegelfabrik besaßen sie, dazu eine Bauernstelle, Fischereirechte und die Schule. Sogar einen eigenen Friedhof hatten sie, weil ihre Toten sich zu gut waren, auf einem protestantischen Kirchhof zu liegen!«
»Dann waren sie wohl nicht gut gelitten?«
»Bestimmt nicht. Fremde, die kein Wort für uns übrig hatten. Franzosen, Engländer, Schweden, sogar ein paar Mohren. Aber die meisten sind fort und haben auch ihre Frauen mitgenommen, Töchter aus unseren Dörfern. Nein, denen weint keiner eine Träne nach.«
Hansen nickte und versank in ein erschöpftes Nachdenken. Aber er kam nicht zur Ruhe. Irgendetwas war noch ungeklärt, auf das er sich jedoch nicht besinnen konnte.
Die Kirchtürme von Hadersleben kamen in Sicht, und kurze Zeit später führte die Straße bergab zum Wasser hinunter. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.07.2005