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Ja. Der Leuchtfeuermeister von Amrum hat mir ganz unerwartet ein Grundstück vor der Nase weggekauft, das ich für den Bau der Eisenbahn benötige. Bisher hat kein Einheimischer sich am Aufbau meines Badeortes beteiligt. Hast du möglicherweise damit etwas zu tun?«
Hansen biss sich verlegen auf die Lippen.
»Hab ich es doch geahnt«, sagte Andresen und begann schallend zu lachen. »Du gehörst zu den Leuten, die ihre Nase in alles stecken und gerne Missstände beseitigen.«
Sönke Hansen lächelte verhalten. Offenbar war dieser Kauf eine Art Vermächtnis. Broder Bandick hatte das getan, was Boy Jensen nicht mehr hatte tun können.
»Kein Grund, sich Gedanken zu machen«, sagte Aksel Andresen. »Ella bat mich, dir etwas mitzuteilen, das ihr sehr am Herzen liegt.«
»Ihr kennt euch?«
Der Däne schmunzelte. »Lars und ich waren in der gleichen Schulklasse. Wir sind zwar ganz unterschiedliche Wege gegangen, politisch vor allem, aber den Kontakt haben wir nie abreißen lassen. Auch wegen und durch Ella. Ich hätte Ella vom Fleck weg geheiratet, aber sie hat ihn genommen.«
»Sie ist eine wunderbare Frau«, sagte Hansen aufrichtig. »Ella ist wie Gerda. Und die Botschaft?«
»Sie sorgt sich darum, dass dir ihre Erklärung wegen Gerda nicht ausreichend schien. Aber ich kann dir bestätigen, dass Nielsen nie gleichzeitig Flüchtlinge und Gewehre an Bord der Olivia nahm. Das Risiko konnte er nicht auf sich nehmen. Verstehst du?«
»Natürlich«, sagte Hansen bedächtig und tippte sich gegen die Stirn. »Das Schiff vor dem Haderslev-Fjord auf Reede - das nächtliche heimliche Beladen in aller Geschwindigkeit - und immer die Gefahr, dass der Zollkutter das Schiff aufbringt. Weder der Reeder noch der Kapitän können da Zeugen an Bord brauchen, die man nicht genau kennt. Diese letzte Fahrt war also ein Waffentransport.«
»Ganz genau. Erstmals mit den umgerüsteten Ballasttanks.«
»Damit dürfte wohl bewiesen sein, dass der Tote von Nordmarsch ein blinder Passagier war«, setzte Hansen hinzu.usatz
»Das war er«, bestätigte Andresen. »Inzwischen wissen wir sogar, wer er war. Die Telegraphenapparate haben ihren großen Nutzen bewiesen, sogar zwischen Deutschland und Dänemark. Vielleicht sollte ich in sie auch investieren É«
Hansen lächelte in sich hinein. »Der Mann war also Däne?«
Andresen kam mit einem Ruck zur Sache zurück. »Er war ein deutscher Däne oder ein dänischer Deutscher, wie viele bei uns im Grenzgebiet. Ein zwielichtiger Mann, aus gutem Hause zwar, aber er hat in mehreren Städten Unterschlagungen begangen und brachte sich zuletzt vor der Justiz von Assens auf Fyn in Sicherheit. Offenbar sah er als einzigen Fluchtweg den über See und landete ausgerechnet auf der kleinen Insel Baagö, wo die Olivia auf günstigen Wind für die Übernahme der Waffen zu warten pflegt. Es muss für ihn ein Geschenk des Himmels gewesen sein, in diesem winzigen Fischerhafen einen Tiefwassersegler vorzufinden.«
»Mich freut es vor allem«, sagte Hansen sarkastisch, »dass der Baron im Hinblick auf diesen Mann nicht noch nationale Schlussfolgerungen ziehen kann.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Gibt es zufällig irgendwelche Erkenntnisse, warum die Olivia unterging? Ich meine, weil du so umfassend informiert bist, Aksel É«
Andresen lächelte ein wenig. »Nicht zufällig. Kenntnisse über Dinge, die man scheinbar nicht anwenden kann, machen einen Teil des Erfolges aus. Die Olivia, ja. Sie fuhr sowieso mit einer für Stürme zu geringen Mannschaft É«
»Aber kurz bevor der blinde Passagier über Bord ging, hatten wir einen Sturm«, erinnerte sich Hansen. »Windstärke acht aus Südwest. Unsichtiges Wetter.«
»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Andresen mit gefurchter Stirn.
»Das erzählte mir Boy Jensen, der Leuchtturmwärter, der ermordet wurde.«
»Tut mir Leid um ihn. Nils Christiansen muss mächtig Angst vor dir bekommen haben, nicht zu Unrecht, wie sich erwies. Er war derjenige, der diesen Mann auf dich angesetzt hat, um dich aus dem Weg zu schaffen. Ein kleiner Gauner, in einschlägigen Kreisen bekannt. Inzwischen wird nach ihm in Hamburg gefahndet, wohin er sich geflüchtet hat.«
»Ich habe beobachtet, wie er auf einem Luxusdampfer abreiste. Aber woher weiß denn die Polizei, wen sie suchen muss?«
»Oh, ich habe auch da ein wenig nachgeholfen. Es gab Amrumer, die den Kerl beschreiben konnten.«
»Klar«, sagte Hansen leise. »Boys Tod war so sinnlos. Aber die Polizei fand ohne jede Untersuchung eine passende Erklärung. Sie zählten anscheinend den Grütztopf am Flaggenmast deines Hotels mit Bolschewisten und Kaisertreuen zusammen und kamen auf politische Verwicklungen, an denen sie sich nicht die Finger verbrennen wollten.«
»Vorwand oder fehlender Mut«, ergänzte Andresen, der nicht überrascht war. »Ich begegne diesem Phänomen in Deutschland öfter.«
Ich auch, dachte Hansen, aber er schwieg.
Andresen seufzte. »Stefan Nielsen fehlte zum unappetitlichen Teil des Geschäftes die Tatkraft, sein Steckenpferd waren die Optantenkinder. Es scheint, als wäre Christiansen nicht sehr damit einverstanden gewesen. Aber Nielsen lieferte die Fassade, hinter der sie ausgezeichnet mit Waffen und Schwarzen handeln konnten.«
»Und der Sturm?«, erinnerte Hansen ihn.
»Diesen Sturm hat die Olivia auf Reede im Königshafen vor List abgewettert, hat Egge Evaldsen herausbekommen. Aber bei Portugal gibt es offenbar nicht viele Leeküsten, wenn es aus Südwest stürmt. Sie muss gekentert sein. Ein Beiboot wurde leer angetrieben É«
»Und ich habe einen Rettungsring von ihr gesehen«, erwähnte Hansen düster. »Das ist dann alles, was von einem Schiff übrig blieb, dessen Untergang drei geldgierige Männer in Kauf nahmen. So gesehen ist es ja eigentlich merkwürdig, dass sie nicht schon früher unterging.«
»Zufall«, sagte Andresen achselzuckend. »Oder die Olivia hatte früher bessere Kapitäne und mehr Mannschaft. Allerdings pflegte auch dieser portugiesische Kapitän in einem der arabischen Häfen mehr Männer zu verpflichten. Schwarze Sklaven an Bord erschienen ihm wohl gefährlicher als seine Heimatküste. Eine Lehre kann er daraus nicht mehr ziehen.« Der Däne verabschiedete sich mit einem freundschaftlichen Klaps auf Hansens Rücken und ging.
Zwei Stunden später war Sönke Hansen schon auf dem Weg zur Hallig. Von der Zingelschleuse aus, den Hinweis verdankte er Petrine Godbersens gesundem Menschenverstand.
Dort wollte gerade ein alter, an den Schultern und im Rücken steifer und schwerfälliger Mann nach Langeness ablegen. Er hatte nichts gegen einen zahlenden Passagier einzuwenden.
Mit den Händen war er unglaublich flink, und noch bevor sie ganz aus dem Hafen heraus waren, hatte er Hansens Bewunderung und Zuneigung gewonnen. »Ich habe dich auf der Hallig nie gesehen«, bemerkte er, als der Ewer auf Kurs lag, das Wasser stetig am Freibord entlangrauschte und eine Weile für den Steuermann nichts zu tun war, als hin und wieder die Schoten, die er aus der Hand fuhr, zu korrigieren.
»Bin meistens draußen bei der Arbeit«, antwortete der Mann wortkarg.
»Und?«
»Hornhechtzäune stellen, Butt pedden, Porren fangen und pulen, Enten schießen und rupfen, Schafe scheren, Treibholz sammeln É Keine Zeit für Versammlungen.«
»Du lebst allein?«, fragte Hansen vorsichtig. Soviel er wusste, war der Fang und das Pulen von Krabben Frauenarbeit.
»Ja. Du auch, hörte ich.«
»Stimmt«, sagte Hansen überrascht.
»Allein auf dem Festland ist etwas anderes als allein auf der Hallig. Ihr Leute vom Festland wisst nichts über uns.«
Hansen nickte widerwillig. Tatendurstig war er an Bord gegangen, die Drohung des Barons hatte er aus seinem Gedächtnis ausgeklammert. Aber der alte Mann hatte ihn, wenn auch sehr höflich, daran erinnert, dass er der Klugschnacker aus der Großstadt war und blieb.
Es würde gut sein, nicht allzu forsch vorzugehen. Er musste die Verhältnisse wieder einmal neu sondieren. »Danke. Ich werde es mir merken«, sagte er.
Der alte Mann von der Tadenswarf verzog keine Miene, aber in seinen blauen Augen lag wohlwollende Belustigung.
Als der Ewer im Osterwehl vertäut war und Hansen sich von dem Schiffsführer verabschiedet hatte und auf dem Ufer stand, sah er, dass inzwischen die Heuernte begonnen hatte. Frauen und Mädchen expedierten die großen weißen Bündel, in die das trockene Gras eingeschlagen war, auf dem Kopf zum nächsten Priel, wo sie in Boote geladen und dann von den Männern zu den Warfen gestakt wurden. Unter ihnen war vermutlich auch Jorke.
Hansen, mit dem Gepäcksack neben seinen Füßen, sah eine Weile zu. Es war so, wie Wirk gesagt hatte. Für die Heuernte wurden Priele benötigt. Welche davon nach der Durchdämmung überhaupt noch schiffbar waren, würde die Zeit erweisen. Er selber war derjenige, der den Halligbewohnern diese tief greifende Veränderung ihrer Welt abringen musste. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.07.2005