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Leitartikel
Köhlers Dilemma

Das rechte Maß des Rechts


Von Jürgen LiminskiÊ
Ê Papst Benedikt XVI. hat in seinem letzten Buch als Kardinal geschrieben, Aufgabe der Politik sei es, »Macht unter das Maß des Rechtes zu stellen und so ihren sinnvollen Gebrauch zu ordnen«. Was aber passiert, wenn das Recht zurechtgebogen wird, um der Politik Auswege aus einer verfahrenen Situation zu bieten?
Gilt dann das Maß des Politischen? Und was gilt, wenn das Maß des Politischen auch noch die Wahrheit verbiegt? Auf solche Fragen muss Bundespräsident Horst Köhler Antwort finden.
Es ist eine Abwägung zwischen dem Prinzip der Wahrheit und dem Prinzip des Nützlichen. Es würde der Republik mehr Nutzen bringen, wenn der Präsident das Parlament auflöste, sagt man.
Noch ein Jahr Stagnation würde dem Land schaden. Wer so denkt, setzt freilich voraus, dass die künftige Regierung es besser kann als die jetzige. Das aber ist nicht ausgemacht. Es kann durchaus zu einem Weiterwursteln auf höherem Niveau kommen. Der Vorteil eines Wahlsiegs der Bürgerlichen läge darin, dass das Patt zwischen Bundesrat und Bundestag aufgelöst würde. Aber ist dies nicht eine Kapitulation vor dem Parteienstaat?
Wie sehr das Wohl der Partei vor dem Allgemeinwohl steht, hat SPD-Chef Müntefering demonstriert. Seine Aussage im Bundestag, Schröder besitze das volle Vertrauen der Fraktion, war ein Schlag ins Ansehen des Präsidenten. Der soll trotzdem so tun, als gäbe es dieses Vertrauen nicht und das Parlament auflösen. Moral und Wahrheit zählen für den SPD-Chef nicht, es zählt nur der politische Wille. Damit kann man jede Barbarei begründen.
Nach der klassischen Definition des Augustinus ist die Lüge eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen. Bei der Vertrauensfrage war der Tatbestand der Lüge eindeutig gegeben. Das Grundgesetz lasse keine andere Lösung zu, heißt es. Wirklich?
Warum gibt der Präsident den Parteien nicht auf, das Grundgesetz zu ändern? Er könnte ihnen sogar einen fertigen Gesetzentwurf zur Änderung des Artikels 68 vorlegen. So schwer dürfte das nicht sein, ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments zu formulieren. Man solle das Grundgesetz nicht aus aktuellem Anlass ändern, sagen Verfassungsrechtler. Das widerspreche der Würde der Verfassung.
Ist lügen würdevoller? Zumindest wäre die Auflösung rechtens, das Lügen als geheiligtes Mittel zum Zweck unnötig. Vielleicht hat der Präsident den Mut zur Wahrheit. Wenn er sich der Auflösung des Parlamentes verweigerte, weil er an der Wahrheit festhält, müsste Schröder zurücktreten. Abgesehen davon, dass dieser Schritt überfällig und verfassungskonform wäre, wäre dieses Verhalten des Präsidenten auch ein Riesenschritt zur Zurückgewinnung der Glaubwürdigkeit für die demokratischen Institutionen. Sie haben es bitter nötig. Das Maß des Rechts würde sich wieder an der Wahrheit orientieren. Das ist mehr wert als ein kurzfristiger wirtschaftlicher Gewinn, wenn es denn überhaupt dazu käme.

Artikel vom 05.07.2005