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Von Reinhard Brockmann
Berlin/Bielefeld (WB). Neuwahlen am 18. September werden immer wahrscheinlicher. Gerhard Schröder hat am Freitag die Vertrauensfrage, wie gewünscht, verloren.

Jetzt liegt der Schlüssel zur Neuwahl bei Bundespräsident Horst Köhler. Unmittelbar nach der Abstimmung bat Schröder das Staatsoberhaupt um die Auflösung des Bundestags. Köhler behält sich laut Präsidialamt wegen der »komplexen« Fragen vor, die Frist voll auszuschöpfen.
Trotz der Bitte der SPD-Spitze um Enthaltung sprachen Schröder 151 Abgeordnete der Koalition das Vertrauen aus. 148 enthielten sich - darunter auch Schröder und sämtliche Bundesminister mit Parlamentsmandat. Die SPD verfügt über 248 Sitze, die Grünen über 55. Mit Nein stimmten 296 Parlamentarier - so viele, wie die Opposition an Sitzen hat.
Nach wochenlangem Rätselraten über seine Motive begründete Schröder den Schritt mit mangelndem Rückhalt in der rot-grünen Koalition. Er könne nicht mit dem notwendigen und stetigen Vertrauen der Parlamentsmehrheit im Sinne des Grundgesetzartikels 68 rechnen. Allerdings sind seine Zweifel nicht belegt durch das bisherige Verhalten der Koalition, die bei allen wesentlichen Abstimmungen in der Vergangenheit hinter ihm stand.
Heimische Abgeordnete begrüßten mit unterschiedlicher Begründung, dass es jetzt sehr wahrscheinlich zu Neuwahlen kommt. Rainer Wend (SPD/Bielefeld) sagte, seine Fraktion habe nach der Abstimmung zu neuer Geschlossenheit gefunden. Am Morgen, als der Kanzler um 8 Uhr der SPD-Fraktion seine Gründe für das Vorgehen erläuterte, sei die Stimmung noch »eher bedrückt« gewesen. Aber Schröders Rede vor dem Parlament, vor allem die schwache Replik von Oppositionsführerin Angela Merkel voll »kleinkarierter Parteipolitik« habe die Sozialdemokraten neu motiviert. Schröder selbst hatte in einer zweiten Fraktionssitzung der SPD am Mittag unter Anspielung auf die sehr engagierte Rede des grünen Vize-Kanzlers seinen Abgeordneten versprochen, er wolle im beginnenden Wahlkampf »den Fischer machen«.
Auch die grüne Staatssekretärin Simone Probst aus Paderborn sprach von neuer Kampfbereitschaft in ihrer Partei. »Wir haben viel Lust auf Wahlkampf«.
Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz kündigte dagegen eine Klage vor dem Verfassungsgericht gegen eine etwaige Auflösung des Bundestags durch Köhler an. Er sprach von einem »inszenierten, absurden Geschehen«. Schröder sei ein Kanzler, der seiner eigenen Mehrheit nicht mehr vertraue, die in sieben Jahren Regierungszeit nicht ein einziges Mal versagt habe. Auch kleine Parteien haben eine Klage angekündigt.
Der Bundeskanzler habe sauber und überzeugend begründet, dass er kein hinreichendes Vertrauen mehr genieße, sagte Reinhard Göhner (CDU/Herford) dem WESTFALEN-BLATT. Dass er das eingeräumt habe, sei bemerkenswert und verdiene Respekt. Göhner sprach von einem guten Tag für Deutschland, weil er die Chance für einen Neuanfang eröffne. Drei Monate Stillstand seien jetzt besser als 15 Monate Chaos. Gudrun Kopp (FDP/Lippe) sagte: »Ich bin sehr sicher, dass das die letzte Rede von Gerhard Schröder im Deutschen Bundestag war.« Kaum jemand rechne noch damit, dass die SPD es noch einmal in die Regierung schaffe.
Verfassungsrechtler werteten unterdessen die Bemerkung von SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering als kritisch, wonach Schröder weiterhin das volle Vertrauen der SPD-Fraktion habe. Das Bundesverfassungsgericht hatte zur Vertrauensfrage von Kanzler Helmut Kohl aus dem Jahr 1982 entschieden, dass dies nur bei einer echten Regierungskrise zulässig sei.
Schröder sagte, das Reformprogramm der Agenda 2010 habe zum Streit in allen Fraktionen geführt. Der für die SPD und ihn persönlich sehr bittere Ausgang der Landtagswahl in NRW am 22. Mai sei das letzte Glied in einer Kette schmerzlicher Wahlniederlagen gewesen. Es sei die Frage gewesen, ob die »volle Handlungsfähigkeit« der Regierung noch gegeben sei. Der Kanzler verwies auch darauf, dass frühere SPD-Parteimitglieder zur linken Wahlalternative WASG gewechselt sind. Ferner verwies er auf eine »destruktive Blockadepolitik« der Union im Bundesrat.
Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) nutzte ihre Antwort in der insgesamt etwa zweistündigen Debatte zur Generalabrechnung mit der Regierung. SPD und Grüne hätten sich handlungsunfähig gezeigt. Die Reformen seien ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Das Land vertrage aber keinen »Zickzackkurs«, wie Rot-Grün ihn fahre. »Wir brauchen einen Neuanfang.« Nach Worten von CSU-Chef Edmund Stoiber haben CDU, CSU und FDP jetzt gute Aussichten, die Regierungsverantwortung zu übernehmen. FDP-Chef Guido Westerwelle sagte: »Deutschland braucht einen neuen Anfang, und das geht nur mit einer neuen Regierung.«
Das Vorgehen von Schröder beurteilt fast die Hälfte der Bürger als unehrlich. In einer Forsa-Umfrage sehen das 49 Prozent so, während 41 Prozent den Weg Schröders für richtig halten. 69 Prozent wollen eine Neuwahl.
So stimmten die Abgeordneten von Rot-Grün aus OWL.
SPD: Ute Berg, Paderborn, Enthaltung; Klaus Brandner, Gütersloh, Enthaltung; Karl-Hermann Haack, Lippe, Enthaltung; Lothar Ibrügger, Minden, Enthaltung; Wolfgang Spanier, Herford, Enthaltung; Rainer Wend, Bielefeld, Enthaltung.
Grüne: Simone Probst, Paderborn, Enthaltung; Jutta Dümpe-Krüger, Lippe, Ja; Michaele Hustedt, Bielefeld, Ja.

Artikel vom 02.07.2005