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Behinderter Junge (11) erhält
205 000 Euro Schmerzensgeld

Arzt half Ungeborenem nach Sauerstoffmangel zu spät auf die Welt

Von Christian Althoff
Gütersloh (WB). Ein Arzt muss einem schwerstbehinderten Kind (11) aus Gütersloh 205 000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Nach Überzeugung des Oberlandesgerichtes in Hamm war der Junge vor elf Jahren in einem Geburtshaus in Sassenberg (Kreis Warendorf) nicht richtig versorgt worden.

Als Maschinenschlosser Michael Voll (37) und seine Frau Heidrun (37) 1994 ihr Kind erwarteten, hatten sie zunächst an eine Hausgeburt gedacht: »Es war eine Traumschwangerschaft ohne Komplikationen, und auch mein Bruder war zu Hause zur Welt gekommen«, sagt Michael Voll. »Eine Hebamme hatte uns dann aber auf mögliche Risiken aufmerksam gemacht und uns das Geburtshaus in Sassenberg empfohlen.« Seine Frau und er hätten sich das Haus des Geburtsarztes Dr. Bernd G. angesehen und das Gefühl gehabt, dort gut aufgehoben zu sein: »Er verfügte sogar über einen OP und sagte, er könne auch einen Kaiserschnitt durchführen.«
Die Geburt am 26. Mai 1994 verlief problemlos - bis der Wehenschreiber um 23.25 Uhr erkennen ließ, dass das ungeborene Kind keinen Sauerstoff mehr bekam. Dr. G. konnte allerdings keinen Not-Kaiserschnitt durchführen, weil er zu dieser späten Stunde nicht über einen Anästhesisten verfügte: »Den hätte ich aus Münster anfordern müssen, und er wäre erst nach einer Stunde vor Ort gewesen«, erklärte der Arzt den Richtern. Der Mediziner hatte seinerzeit eine Saugglocke benutzt, um das Baby zu holen. Erst um 23.50 Uhr, 25 Minuten nach dem Alarm des Wehenschreibers, kam Benedikt zur Welt - schwerst körperlich und geistig geschädigt.
Der Junge kann hören und sehen - mehr nicht. Er ist 24 Stunden am Tag auf Pflege angewiesen, denn selbst nachts muss er im Bett gewendet werden, damit er sich nicht wundliegt. Er kann seinen Kopf nicht halten, bekommt Breinahrung, weil er nicht kauen kann, und leidet unter Epilepsieanfällen. »Äußern kann er sich nur über seine Mimik«, berichtet die Mutter: »Wenn er lächelt, bedeutet das "Ja", wenn er sein Gesicht verzieht, meint er "Nein".«
Vom Gericht bestellte Gutachter sahen zwei mögliche Gründe für den dramatischen Geburtsverlauf: Nach ihrer Meinung war entweder die Nabelschnur gerissen, oder die Gebärmutter hatte sich vorzeitig abgelöst, weshalb das Baby keinen Sauerstoff mehr bekommen hatte und sein Gehirn geschädigt worden war. Beides konnte Dr. Bernd G. nach Auffassung der Richter nicht angelastet werden - wohl aber die lange Zeit, die er benötigt hatte, um das Kind zu holen. Das Oberlandesgericht warf dem Arzt »grobe Organisationsfehler« vor. Er habe keinen Notfall-Kaiserschnitt durchführen können, obwohl er die Eltern in den Glauben versetzt habe, er sei in seinem Geburtshaus auch auf solche Fälle eingerichtet.
Die Gerichtsgutachter hatten ausgesagt, dass das Kind bereits acht bis zehn Minuten nach dem Wehenschreiber-Alarm auf der Welt gewesen wäre, hätte man es per Kaiserschnitt geholt. Bei einer Zangengeburt (über diese Ausbildung verfügte der Arzt allerdings nicht) hätte Benedikt sogar nach drei bis fünf Minuten den Mutterleib verlassen können. Dem Jungen hätte also eine sauerstofflose Zeit zwischen zwölf und 22 Minuten erspart werden können. Dieses hätte nach Ansicht der Gutachter dazu geführt, dass der Grad der Behinderung heute nicht bei 100 Prozent läge, sondern bei 30 bis 50 Prozent. Der Neuropädiater Prof. Dr. Fuat Aksu von der Universität Witten/Herdecke erklärte vor Gericht, bei einer Behinderung von 30 bis 50 Prozent wäre Benedikt nicht mehrfach behindert: »Er könnte möglicherweise laufen und selbständig essen. Ich halte es außerdem für möglich, dass das Kind heute sprechen könnte.«
Die Eltern sagten aus, sie hätten für die Geburt das Krankenhaus in Gütersloh aufgesucht, wenn sie geahnt hätten, dass der Arzt in seinem Geburtshaus nicht auf eine Not-Entbindung vorbereitet gewesen sei.
Vor dem Landgericht Münster hatte die Familie den Prozess in erster Instanz noch verloren. Die Richter hatten argumentiert, die Eltern könnten nicht beweisen, dass Benedikts Behinderung nicht vollständig auf einen Nabelschnurriss oder eine Plazenta-Ablösung zurückzuführen ist. Die Juristen des Oberlandesgerichts befanden hingegen jetzt in letzter Instanz, wegen des groben Organisationsfehlers des Arztes gelte die Beweislastumkehr. Danach hätte der beklagte Arzt nachweisen müssen, dass Benedikt auch nach einer Geburt im Krankenhaus zu 100 Prozent behindert gewesen wäre - und das konnte Dr. Bernd G. nicht.
Patientenanwältin Heike Eimertenbrink aus Bielefeld, die sich seit sieben Jahren für den Jungen eingesetzt hatte, freut sich mit den Eltern über das Urteil: »Der Arzt muss nämlich nicht nur das Schmerzensgeld zahlen, sondern für alle Kosten aufkommen, die Benedikt im Laufe seines Lebens durch die Behinderung entstehen.«

Artikel vom 02.07.2005