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Der Dampfer befuhr die Strecke Flensburg-Hadersleben nur einmal wöchentlich, und die Fahrt dauerte wesentlich länger als mit dem Zug. Aber ihm war es den Aufwand wert. Der Haderslev-Fjord hatte, wenn man Andresens Empfehlung ernst nahm, offenbar nur vom Wasser aus seine besondere Bedeutung.
Die Anlegestelle der Lustdampfer befand sich am innersten Sackende des Hafens. In einer Schlange von anderen Passagieren vor dem Dampfschiffpavillon, in dem man sich mit der Fahrkarte und kleinen Andenken an die Seereise versorgen konnte, wartete Sönke Hansen geduldig darauf, auf das Schiff gelassen zu werden.
Plötzlich sichtete er Fiete Rum, der am Kai entlangschlenderte. Hansen drehte sich abrupt mit dem Rücken zu ihm und vertiefte sich in den Prospekt der Flensburg-Ekensunder-Dampfschifffahrtsgesellschaft, die den Personenverkehr auf der Innen- und Außenförde betrieb. Den Plan mit den Ankunftszeiten an Orten, Inseln und Brücken las er runter und wieder hoch und wurde dabei das unangenehme Gefühl von Blicken im Rücken nicht los.
Schließlich drehte er sich um und suchte die Umgebung ab. Er fand Fiete sofort. Der Spion des Rumhändlers stand erhöht auf einer Tonne oder Kiste und beobachtete ihn wie ein Raubvogel auf Mäusejagd. Eine hämische Freude ging über sein Gesicht, als er sicher war, dass Hansen ihn erkannt hatte.
Hansen schauderte ein wenig und wandte den Kopf demonstrativ desinteressiert ab. Dankbar stellte er im gleichen Augenblick fest, dass die Absperrung geöffnet wurde. Inmitten der anderen Passagiere schob er sich durch den Engpass, an dem die Fahrkarten eingerissen wurden, und stand kurz darauf auf dem Oberdeck.
Fiete war verschwunden. Sollte er doch ruhig zum Kontor zurücklaufen und melden, dass Hansen eine Lustfahrt auf der Förde machte. Ihn interessierte es nicht.
Nach müßig verbrachten Stunden stand Sönke Hansen am Spätnachmittag hellwach im Bug des Dampfers. Noch wusste er nicht, wonach er Ausschau hielt.
Kaum hatten sie den engen Aarösund passiert, ging der Lotse an Bord, der den Dampfer durch den Haderslev-Fjord steuern würde. Sein kleines Boot legte vom Nordufer ab und wartete neben der ausgeprickten Fahrrinne. Der Dampfer stoppte nur kurz, um ihn aufzunehmen.
Gegenüber, an der Südseite der Förde, sah Hansen im Fernglas zwei schwarze Tonnen. Vor der einen lag ein größerer Segler. Am Ufer gab es einen Steg und darüber ein Haus, vor dem die Flagge des Kaiserreichs wehte. Das musste die Zollstation sein.
Die Förde wurde schnell eng. Die Fahrrinne wand sich zwischen den steilen Ufern mit solch scharfen Richtungsänderungen, dass sie weder nach vorn noch nach achtern weit zu überblicken war. An den meisten Krümmungen standen die Pfähle von Stellnetzen, und jetzt am Abend machten sich die Fischer daran zu schaffen. Auch an den zahllosen windschiefen Bootsstegen herrschte reges Treiben.
Wo immer Hansen sein Fernrohr hinrichtete, erblickte er das normale Leben eines Sommerabends am Wasser. Oben auf dem Ufer stieg Rauch aus vereinzelten Schornsteinen, meistens sah er jedoch nur Wald oder Getreidefelder.
Das alles interessierte ihn nicht. Allmählich begann er sich Sorgen zu machen, dass er Andresens Andeutung falsch verstanden hatte.
Dann kam eine Brücke in Sicht, die Hansens Aufmerksamkeit auf sich zog, weil sie leblos wirkte, obwohl besser instand gehalten als alle anderen. Es mangelte ihr an den üblichen Tauen und Fendern, und kein einziges Boot war an ihr vertäut. Ein aufgegebener Schiffsanleger? Sein Fernrohr blieb an einem verwitterten Schild hängen, das schon etwas windschief an zwei verfallenden Pfosten hing. Hansen begann die verblichenen Buchstaben zu entziffern.
Vor Überraschung wäre ihm beinahe das Rohr über die Reling gefallen.
Dies war keine Ortschaft, sondern die Brücke der HADERSLEV GEVAERFABRIK, der Haderslebener Gewehrfabrik.
Im Ohr hatte Hansen noch die alarmierte Stimme des Polizisten von Föhr, der ihm den Unterschied zwischen einer Kugel und einem modernen Spitzgeschoss erklärte. Spitzgeschoss wie Krieg, nicht wie Jagd. Konnte das Geschoss etwas mit dieser Gewehrfabrik zu tun haben?
Ungeduldig und schon mit der Reisetasche in der Hand wartete Hansen auf den nächsten Halt. Starup, wie einer der Schiffsoffiziere ihm gesagt hatte, worauf er sich spontan entschlossen hatte auszusteigen.
Hadersleben musste warten. Der ehemalige Reeder der Olivia war im Vergleich zur Entdeckung einer Gewehrfabrik im Augenblick zweitrangig.
Die Brücke schwenkte vor den Bug, auf dem hohen Ufer darüber wurde der gedrungene Turm einer Kirche sichtbar.
Hansen war der einzige Fahrgast, der bei dem kurzen Halt ausstieg. Er hatte den Steg noch nicht verlassen, als er hinter sich schon die drei Pfiffe für Maschine rückwärts hörte. Er begann, am Steilufer den Weg zum Dorf hochzusteigen.
In der Nähe der Kirche fand er den Krug. Erleichtert steuerte Hansen auf das Wirtshausschild zu.
Aber erst nach dem Frühstück am nächsten Morgen brachte Hansen das Gespräch vorsichtig auf die Gewehrfabrik. Nach einem forschenden Blick auf Hansens wieder blank gewienerte Reisetasche und auf seine tadellose Reisekleidung gab der Wirt zögernd zu, dass die Fabrik noch in Betrieb sei.usatz
Hansen spürte seine Zurückhaltung. »Ich war mir nicht mehr so sicher, ob es sich um mehrere Fabriken oder mehrere Gebäude handelt«, erklärte er sein Unwissen. »Aber das habe ich erst jetzt gemerkt. Wissen Sie, ich liebe die See und habe mich auf die Schiffsreise hierher gefreut. Aber es wäre natürlich einfacher gewesen, die Eisenbahn zu nehmen, wie man mir nahe legte É«
»Ah, darum der Umweg.« Der Wirt lächelte verständnisvoll. »Ich hoffe, der Herr hat sich auf See gut erholt. War ja ein schöner ruhiger Tag gestern. Der Herr beabsichtigt vermutlich, eine besondere Waffe zu bestellen?«
»Mal sehen. Wenn ich nichts Passendes finde, reise ich nach Kopenhagen weiter.« Die dortige Waffenfabrik war so bekannt, dass auch Hansen von ihr wusste.
»Die Leute hier herum können's besser gebrauchen«, bemerkte der Wirt und lehnte sich vertraulich über den Tresen. »Wissen Sie, der alte Frederik Nielsen entließ etliche Büchsenmacher und viele andere, die er beschäftigte, als der Handel mit Sklaven aufhörte. Die Gegend hat sich davon immer noch nicht erholt.«
Hansen klopfte plötzlich das Herz bis zum Hals. Das war es! Jetzt wusste er, worauf Andresen ihn mit der Nase stieß!

Das war der Zusammenhang zwischen einem Schiff, das die Olivia sein konnte, einem Spitzgeschoss und Nielsens Rum-Kontor. Glücklicherweise interpretierte der Wirt seine Gemütsbewegung als Betroffenheit.
Er nickte mehrmals sorgenvoll. »Jaa, so war das«, bekräftigte er. »Immerhin hatte das dänische Militär damals noch Verwendung für die preiswerten Gewehre mit dänischen Buchenholzschäften, und so blieb die Fabrik erhalten. Die Büchsenmacher sind die Spezialisten für das Waffenhandwerk, müssen Sie wissen, aber zur Fabrik gehörten noch viele andere Gewerbe. Insgesamt müssen es einige hundert Leute gewesen sein, die für Frederik Nielsen arbeiteten. Er vertrat die Ansicht, dass wir Weißen die Pflicht haben, die unwissenden Mohren in Lohn und Brot zu bringen. Jaa, er war ein anständiger Mensch. Natürlich hat er auf diese Weise auch Geld verdient, aber das kann man ihm nicht verübeln. Er hat damit hier in der Gegend viel Gutes getan.«
»Woher wissen Sie denn so ausgezeichnet darüber Bescheid?«, wunderte sich Hansen, der sich inzwischen gefangen hatte.
»Mein Vater wurde damals entlassen und konnte diesen Krug übernehmen«, antwortete der Wirt, der mit jedem Satz von Hansen zugänglicher wurde. »Aber ich trage es dem Alten nicht nach, im Gegensatz zu vielen anderen. Es ist eben ein sterbendes Gewerbe, obwohl Nielsens Gewehre immer noch einen guten Ruf haben.«
»Aber doch nicht für das dänische Militär.« Hansen sah ihn fragend an.
Der Wirt grinste. »Leider nicht mehr. Ich sag's Ihnen im Vertrauen, aber Sie wissen es vermutlich selbst: Die meisten gehen nach Guinea in Afrika. Und etliche an Leute wie Sie. Es gibt erstaunlich viele adelige Herren aus Holstein, die aus Tradition ihre Luxuspistolen bei Nielsens bestellen.«
»Natürlich, natürlich. Man hängt schließlich an den Sitten der Väter.« Hansen nickte lächelnd. »Kann ich hier eigentlich eine Kutsche bekommen?«
»Bedauerlicherweise nicht. Aber die Fabrik hat ein Telefon. Wenn Sie vom Post- und Telegraphenamt neben der Kirche anrufen, werden Sie mit dem Automobil abgeholt. Und später bringen die Sie auch zur Bahnstation nach Haderslev.«
»Hervorragend«, sagte Hansen jovial und hinterließ ein ansehnliches, einem begüterten Waffenliebhaber angemessenes Trinkgeld auf der Theke, bevor er sich verabschiedete.
Das Postamt lag glücklicherweise außerhalb der Sichtweite des Kruges. Sönke Hansen orientierte sich an der Sonne und am Fjord und marschierte los.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.07.2005