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Ist auf der Hallig etwas passiert?«, fragte Hansen bestürzt. »Sie benehmen sich alle so merkwürdig.«
Wirk stampfte mit dem nackten Hacken einen Champignon in Grund und Boden, ohne zu antworten. Das weiße Pilzfleisch spritzte nach allen Seiten.
»Wirk!«, mahnte Hansen aufgebracht. »Was ist los?«
Der Junge zuckte mit den Schultern, ohne die Augen vom Gras zu heben. »Lehrer Boysen hat neulich vergessen, seinen Zylinderhut aufzusetzen.«
Hansen sah ihn irritiert an. Mit ähnlich unverständlichen Bemerkungen hatte Wirk sich am Anfang ihrer Bekanntschaft eingeführt. Inzwischen kannte er ihn gut genug, um ihn nicht mit der unüberlegten Routinefrage eines Erwachsenen vor den Kopf zu stoßen. »Willst du damit sagen, dass eine Herde Schweinswale an Land geklettert ist, die Hallig erobert und Lehrer Boysen erschreckt hat?«
Wider Willen grinste Wirk, strich sich die Haare von den Augen und hob den Kopf. »So ungefähr. Sie liegen alle im Streit miteinander. Die Langenesser mit den Nordmarschern und umgekehrt. Tete Friedrichsen mit Mumme Ipsen. Mumme mit Jorke, und Lehrer Carsten Boysen ist gegen mich.«
»Oha, das hört sich ernst an.« Hansen überlegte kurz, aber er war nicht in der Lage, sich den Grund dafür vorzustellen.
»Und wie!« Wirk nahm seinen Korb, der bis zum Rand voll mit Pilzen war, nahm Anlauf zum Sprung über den Graben und landete neben Hansen auf dem Weg. »Ich überlege mir schon, ob ich nach Neu York auswandern soll. Das ist nicht mehr zum Aushalten hier.«
»Warum aber?«
»Ich hab's doch gesagt«, antwortete Wirk unwirsch. »So ähnlich stelle ich mir den Krieg vor, nur dass da auch noch geschossen wird.«
»Wenn du meinst É«, sagte Hansen betroffen und begleitete Wirk schweigend nach Hilligenlei, wo der Junge grußlos am Wirtshaus entlang nach hinten marschierte, um die Pilze in der Küche abzuliefern, er selber das Haus aber durch die Vordertür betrat.

Rouwert Wollesens Gruß fiel geschäftsmäßig höflich aus, aber nicht mehr, schon gar nicht, wie es ein Stammgast wie Sönke Hansen erwarten konnte.
Endgültig verstimmt, stieg Hansen zu seinem Zimmer hoch, öffnete als Erstes das Fenster und blickte über die See, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er gerade angekommen war. Der blaue Himmel und das Wasser trafen sich in einem hellen Strich am Horizont, es ging kaum ein Lüftchen, und es war eigentlich ein wunderbarer Tag, um schwimmen zu gehen.
Aber Hansen gestand sich ein, dass er zu beunruhigt war, um die Hallig von Herzen genießen zu können. Er beschloss stattdessen, Mumme Ipsen aufzusuchen. Besser als Wirk würde er erklären können, was auf der Hallig los war. Hatten sie am Ende beschlossen, dem Wasserbauamt aufzukündigen?
Der Ratmann saß auf der Bank neben der Klöntür und rauchte. Als er Hansen sah, klopfte er die weiße Tonpfeife verdrießlich aus und erhob sich.
Aber Hansen war schneller und verstellte ihm den Weg ins Haus.
Mit einem ergebenen Seufzer kehrte Mumme Ipsen zur Bank zurück, zog einen Tabakbeutel aus der Tasche und begann die Pfeife wieder zu stopfen. »Es gibt nichts Neues«, murmelte er abweisend.
»Dann vielleicht etwas Altes. Der Unfrieden auf der Hallig ist mit den Händen zu greifen«, sagte ihm Hansen auf den Kopf zu.
»Mag sein. Das passiert aber nur, wenn Klugschnacker aus der Großstadt sich in unsere Angelegenheiten mischen«, versetzte Ipsen brüsk.
»Ich?«, fragte Hansen ungläubig.
»Wer sonst?«
»Husum ist doch keine Großstadt. Ein Provinznest«, murmelte Hansen und versuchte, Zeit zu gewinnen.
»Spielt keine Rolle. Für Halligleute ist jede Stadt eine Großstadt, das solltest du inzwischen wissen.«
Hansen nagte an seiner Unterlippe. »Und ich habe mich eingemischt, indem ich die Hallig zu retten versuche? Vielmehr meine Dienststelle, die mich geschickt hat?«
Ipsen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Darum geht es doch nicht.«
»Worum denn dann?«, fragte Hansen geduldig und völlig ratlos. Aber wenn er diese Sache nicht vernünftig aufklären konnte, war seine Mission auf der Hallig endgültig am Ende.
»Um die Frischwasserquelle. Glaubst du etwa, wir wussten nicht, dass Tete sie zugeschüttet hat?«
»Ja, und?« Hansen war verwirrt.
Er hatte keine blasse Ahnung, auf was Ipsen hinauswollte.
»Es gibt immer einzelne Hitzköpfe, die vorpreschen und Unsinn von sich geben wie Melff. Macht nichts, ihn hätte ich mir zur Brust genommen, und es wäre erledigt gewesen. Aber was ein Fremder wie du sagt, bleibt, noch dazu wenn der Fremde eine amtliche Person ist. Jetzt steht deine Anklage gegen Tete Friedrichsen zwischen uns Halligleuten, zwischen beiden Halligen sogar. Wir wissen mit solchen Dingen nicht umzugehen. Wir streiten nur noch! Und diesen Streit hast du angezettelt.«
»Und Jorke É?«, wandte Hansen hilflos ein.
»Jorke. Ich sage dir doch, wir hätten die Sache unter uns geregelt. Außerdem ist Jorke anders als die meisten Frauen. Sie genießt so etwas wie Narrenfreiheit und wird trotzdem geschätzt und geachtet.«
Sönke Hansen lehnte den Kopf an die Hauswand und dachte mit geschlossenen Augen nach. Er hatte den Frieden auf der Hallig gestört. Erst dadurch, dass er als Außenstehender laut über einen Missstand gesprochen hatte, war dieser Wirklichkeit geworden. Ohne ihn hätte man die Angelegenheit erfolgreich durch Verschweigen und Vergessen erledigt. Jorke war als Lügnerin hingestellt worden, und das hätten alle in Kauf genommen. Aber Jorke war anders und hatte ihn um Hilfe gebeten. Er bereute sein Eingreifen nicht im Geringsten.
Als er die Augen wieder aufschlug, klopfte Ipsen gerade erneut den kleinen Pfeifenkopf aus und erhob sich. Hansen sah ihm nach. Am liebsten hätte er dem Ratmann hinterhergerufen, ihn irgendwie aufgehalten. Es musste doch einen Weg geben, sie alle zur Vernunft zu bringen!
Aber dann schloss Mumme Ipsen hinter sich den oberen Türflügel nachdrücklich, fast feindselig. Erst jetzt merkte Hansen, dass die sonst sehr belebte Warf still dalag, als seien ihre Bewohner fortgezogen. Nur der Wind pfiff um die Hausecke und traf scharf sein Gesicht.
Tief in Gedanken wanderte Sönke Hansen zweimal um den Fething, bis er zu einem Entschluss kam. Und dann kostete es ihn noch Überwindung, Jorkes Haus zu betreten.
»Jorke«, rief er in den Flur, in dem trotz des geöffneten oberen Türflügels dämmeriges Licht herrschte.
Die Küchentür schwang auf. Jorke, mit einem karierten Handtuch über der Schulter, spähte mit gerunzelter Stirn heraus. Als sie ihn erkannte, warf sie das Tuch hinter sich und kam ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.
Sönke Hansen seufzte vor Erleichterung. Jorke war wirklich erfrischend unkompliziert. Sie trug ihm nichts nach. »Ich glaube, ich habe auf der Hallig etwas in Ordnung zu bringen«, sagte er gedämpft.
Jorke nickte. »Die Quelle. Ich habe gewusst, dass du drauf kommen würdest.«
»Und du konntest mich nicht warnen?«
»Nein. Ich war ja schuld, dass du dich überhaupt eingemischt hast. Womöglich hätte ich es noch schlimmer gemacht.«
»Ja, vielleicht«, gab Hansen widerwillig zu. »Ich brauche deine Hilfe. Ich muss die Quelle freilegen, aber ich würde sie allein nicht finden. Ich hoffe, du kennst ihre Lage.«
»Wer Vieh hat, weiß, wo die Quelle ungefähr ist. Und natürlich gehe ich mit dir hinaus«, erklärte Jorke bereitwillig. »Morgen, nein, besser noch übermorgen, ist das Niedrigwasser so spät am Abend, dass uns nicht jeder aufs Watt gehen sieht. Höchstens dreißig, vierzig Augen.«
Trotz seiner Erleichterung grinste Hansen nur trübe.
Es gab auf der Hallig wohl kaum etwas, das unbeobachtet blieb.
»Viehaugen, meinte ich doch nur, Sönke«, fügte Jorke sanft hinzu und sah ihn aufmunternd an.
Aber im Augenblick konnte nichts ihn aufmuntern. Die Schuld, von der er nichts gewusst hatte, machte Hansen ganz elend. So einfach war das Leben auf der Hallig nun auch wieder nicht.
Am nächsten Tag blieb Sönke Hansen für sich allein, schwamm lustlos, lag im Flohkraut und las unkonzentriert in einem Buch, von dem er hinterher nicht einmal mehr den Titel hätte nennen können. Vergebens wartete er auf Wirk.
Eine Rinderherde zog langsam näher und weidete schließlich in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Liegeplatzes. Anfänglich musste er nur zudringliche Fliegen abwehren, dann kam ein neugieriges Jungrind, das mit lang gestrecktem Hals an seinem Fuß schnupperte und schließlich an der Sohle zu lecken versuchte. Die nasse Zunge ertrug er heldenhaft. Als das Rindvieh sich aber anschickte, den unordentlichen Haufen seiner Kleider wie einen niedrigen Hügel zu besteigen, reichte es ihm. Wütend und ungläubig zugleich schubste er den kleinen Bullen beiseite und brachte Hose, Schuhe und Handtuch vor den Klauen in Sicherheit. Alles unter den Augen eines erstaunten Hütejungen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.07.2005