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Der Wirt, der Hansen gegenübersaß, grinste und hob ihm seinen Bierkrug prostend entgegen. »Vielleicht könnte Ihre Mutter so freundlich sein, und auch diese Strickjacke É«
Hansen sah an sich hinunter. Die Jacke klaffte, weil drei Knöpfe fehlten, und die Außentasche war fast abgerissen. Aber es war nutzlos, dem Wirt den Unterschied zwischen seiner Mutter und Petrine Godbersen zu erzählen. Und auch ziemlich unwichtig.
Er verzog das Gesicht säuerlich. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass er sich selber in eine schlimme Lage hineinmanövriert hatte. Wenn Christiansen oder gar Nielsen selbst sich an das Wasserbauamt wandten, um Beschwerde einzulegen, wäre er geliefert. Als preußischer Beamter hatte er unter Nennung von vollem Namen und Dienststelle zu arbeiten. Was er heute getan hatte, fiel nicht unter den Begriff Arbeitsauftrag. Selbst wenn er Urlaub gehabt hätte, wäre er unehrenhaft unter falscher Flagge gesegelt. Und seine fast noch nagelneuen Schuhe war er auch wieder los.
»Ich hoffe, so viel Ersatzkleidung ist nicht nötig«, murmelte er. »Ich bin in eine ärgerliche Sache hineingezogen worden und muss sie zu einem guten Ende bringen.«
»Habe auch nichts anderes vermutet«, sagte der Wirt gutmütig.
»Und mit all dem hat auch Fiete Rum zu tun.«
»Wundert mich gar nicht.«
Der Schankknecht, der inzwischen die Bedienung übernommen hatte, schlängelte sich hastig zwischen den eng gedrängten Tischen hindurch und beugte sich zu seinem Chef hinunter. »Fiete Rum steht auf dem Kai und neben ihm einer von Nielsens Kontor, ich glaube, der Laufbursche«, sagte er verhalten. »Sie sehen herüber, als gäb's bei uns etwas Besonderes.«
»Sind Sie das Besondere?«, fragte der Wirt und war schon halb auf den Beinen, bevor Hansen begriff, warum ihn der Mann am Arm packte und hochzog. »Ich wette, Sie sind's. Nach hinten, schnell!«
Hansen folgte ihm wortlos und ließ sich hinter dem Schankraum in einen Schrank schieben. Er war scheußlich eng und niedrig, und ihn überkam Niesreiz. Dann entdeckte er neben dem Gehänge einen breiten Spalt im Holz, der Luft und Licht hereinließ. Einen Teil des Schankraums konnte er sogar einsehen.
»Nanu«, hörte er kurz darauf den Wirt geschmeidig sagen, »ein Angestellter aus Nielsens Kontor in meinem Restaurant? Ich hoffe, Sie sind als Vorkoster für die anderen gekommen, Meister.«
Das schrille Lachen, das der Einladung folgte, hatte Hansen schon einmal gehört. Der Kontorlehrling.
»Danke, danke. Aber ich glaube nicht. Im Gegenteil. Ich möchte Ihnen einen Gast entführen, der mit meinem Dienstherrn zu sprechen wünscht. Ich bringe ihn später zurück.«
»Suchen Sie sich einen aus«, erlaubte der Wirt mit verstecktem Spott. »Aber ich bin nicht sicher, dass von meinen Gästen viele mit Nielsens zu tun haben wollen.«
Darauf wurde es still in der Kneipe, die voll war von Gästen. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf die Neuankömmlinge. Hansen hielt den Atem an.
»Der Mann ist nicht hier«, unterbrach der aufgeregte Lehrling die Stille. »Er ist bestimmt hierher gekommen und schon wieder fort! Er heißt Hansen. Kennen Sie ihn?«
»Schon möglich«, antwortete der Wirt behäbig. »Ich kenne mindestens zehn Hansens. Wenn nicht zwölf.«
Gelächter kam auf. Die Fischer und Schauerleute schienen die Hilflosigkeit der beiden zu genießen. Unversehens wurde Hansen klar, dass möglicherweise etliche von ihnen einem Angestellten von Nielsens Kontor gerne eins auswischen würden.
»Und du, Fiete?«, fragte der Wirt unbeirrt weiter. »Willst du dich nicht setzen, um wieder einmal Leute aufeinander zu hetzen?«
»Was faselst du!«, antwortete Fiete Rum knapp und trat in diesem Augenblick in Hansens Blickfeld hinein. Er war so groß, dass er sich im Schankraum bücken musste, aber im Übrigen von so unauffälliger äußerer Erscheinung, dass sich keiner nach ihm umdrehen würde.
»Komm, wir gehen. Der Mann ist nicht hier. Wenn er auftaucht, schicken Sie ihn zum Chef selber«, befahl der Laufbursche hochnäsig. »Herr Stefan Nielsen ist heute im Kontor.«
Schade, das hätte er wissen sollen. Ein Blick auf den Besitzer der Olivia hätte bestimmt nicht geschadet, dachte Hansen, während er Fietes Rücken auf die Hafenzeile entschwinden sah und darauf wartete, befreit zu werden.
Einen Augenblick später wurde die Schranktür aufgezogen. »Die Luft ist rein«, meldete ihm der Schankknecht leise.
Hansen schlüpfte unauffällig an den nächststehenden Tisch und setzte sich. Unterdessen stand der Wirt mitten im Gastraum, wo zwischen den Gästen lauthals Meinungen über Nielsens Rum-Kontor ausgetauscht wurden.
Wie Hansen vermutet hatte, waren sie nicht besonders gut.
Spät am Abend befand sich Hansen immer noch in der Rumboddel. Erst als es dunkelte, schlich er in Holzschuhen, die mit Papier ausgestopft waren, zum Hintereingang hinaus. Eine Droschke wartete auf ihn, die ihn zur Nordschleswiger Weiche brachte. Er erwischte gerade noch den letzten Zug nach Husum.

Kapitel 20Herr Petersen«, sagte Sönke Hansen entschlossen, »es tut mir Leid, bekennen zu müssen, dass ich mich auf der Hallig in eine Angelegenheit gemischt habe, die zunächst einfach zu lösen schien, inzwischen aber ein Ausmaß angenommen hat, das sich nicht mehr zwischen den Dienststunden verstecken lässt. Darüber hinaus habe ich, ohne es zu beabsichtigen, das Wasserbauamt in die Sache hereingezogen.« Er berichtete, was passiert war, ohne sich selbst zu schonen.
Cornelius Petersen stieg mit fortschreitender Berichterstattung das Blut zu Kopfe, und seine stämmige Figur schien sich in seinem Bürosessel zu verkürzen und breiter zu werden.
»Das größte Problem für das Wasserbauamt ist zweifellos die Beschwerde, die von Nielsens Rum-Kontor droht«, bekannte Hansen offenherzig zum Schluss der Beichte.
»Zweifellos«, brachte Petersen mühsam heraus. »Und spätestens dann sind Sie entlassen. Hansen, was haben Sie uns angetan!«
»Ich wurde von den Halligbewohnern gebeten zu helfen.«
»Als ob das eine Begründung wäre!«, bellte Petersen.
»Ja, doch, das ist eine. Welches Amt sollte einer Hallig helfen, wenn nicht das Wasserbauamt?«
Petersen hielt inne. Seine Wut schien wie Rauchwölkchen um seinen Kopf zu schweben, indes er Hansen überrascht betrachtete. »Sie rechnen auf Dankbarkeit der Halligleute? Wie alt sind Sie eigentlich, Hansen?«
»Zweiunddreißig. Nein, nicht Dankbarkeit. Die Engländer würden es Fairness nennen.«
»Ich weiß um Ihren Hang zum Englischen. Aber sprechen Sie ruhig Deutsch.«
»Auf den Halligen haben die Leute vieles bewahrt, was auf dem Festland als altmodisch gilt«, sagte Hansen mit leisem Trotz. »Es gelten andere Regeln zwischen den Menschen. Man wird nach seinen Taten beurteilt, nicht nach dem Wort. Es ist nicht derjenige der Angesehenste, der die flinkste Zunge hat. Oder einer verachtet, weil er nicht schreiben kann.«
»Das war das Plädoyer für die Halligbewohner«, sagte Petersen trocken, aber es war nicht zu verkennen, dass Hansen ihm den Wind aus den Segeln genommen hatte. »Sie lieben sie und ihre Halligen.«
»Das stimmt.« Es kam von Herzen.
»Ich werde Sie und Ihre tollkühne Handlungsweise decken, so gut ich kann«, brummte Petersen nach einer Weile. »Aber wenn Herr Nielsen etwas gegen das Amt unternimmt, sind Sie geliefert. Ist Ihnen das klar, Herr Hansen?«
»Natürlich.«
Petersen rieb sich nachdenklich die Nase. »Gesetzt den Fall - nur mal angenommen - wir hören nichts vom Rum-Kontor, dann wäre das der Beweis, dass die Leute dort Dreck am Stecken haben.«
»Ja.«
»Natürlich. Ja, ja É Warum so einsilbig, Hansen? Sie haben Angst, stimmt's?«
»Ich gebe es zu«, sagte Hansen. »Ich habe nicht sehr viel Vertrauen zu den Mächtigen. Dummerweise kennen sie einander meistens, selbst wenn sie offiziell auf verschiedenen Seiten stehen, und die Ehre erfordert es, einander zu unterstützen. Stefan Nielsen hat Verbindungen zum dänischen Königshaus, dieses wiederum mit dem preußischen König, und É Sie wissen ja selbst, wie das ist.«
»Wir müssen Munition gegen das Rum-Kontor bereithalten«, entschied Petersen entschlossen. »Offensichtlich gibt es ein Geheimnis um die Olivia, das sowohl die Werft als auch der Besitzer zu schützen bemüht sind. Wenn tatsächlich etwas Ungesetzliches dahinter steckt, lassen sie vielleicht die Finger von Ihnen. Wir müssen mehr über die Olivia in Erfahrung bringen!«
»Kapitänleutnant von Frechen hat gewiss die besten Möglichkeiten, über die Schiffsregister an Informationen zu kommen«, schlug Hansen vor und verkniff sich die Frage, ob Petersen etwa vorhatte, dem Kontor mit ihrem Wissen zu drohen. Er war dazu imstande.
Petersen lächelte schmal. »Ich sehe, Sie haben trotz Ihrer demonstrativ hängenden Ohren Ihre nächsten Schritte schon überlegt. Sprechen Sie den Kapitän an und versuchen Sie Ihr Glück. Mich lassen Sie bitte aus dem Spiel.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.07.2005