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»Hier steht immer der Mensch im Mittelpunkt«

Zwei Studenten aus dem rumänischen Hermannstadt hospitieren im Ev. Johanneswerk

Schildesche (WB). Wenn Andrei und Attila in diesen Tagen nach Rumänien zurückkehren, haben sie einen Erfahrungsrausch hinter sich. »Es geht alles so wahnsinnig schnell«, sagt der 20-jährige Andrei. »Ich wünschte, wir wären für ein halbes Jahr hier - andererseits vermisse ich meine Freunde doch sehr . . .«
Andrei Stefanescu und Attila Szabo studieren in Sibiu (Hermannstadt) in Siebenbürgen im vierten Semester Sozialmanagement. Der Studiengang ist neu und das Austauschprogramm mit Deutschland eine Initiative der Diakonie Neuendettelsau bei Nürnberg. Die übernimmt auch die 350 Euro Studiengebühren, die der Aufenthalt der beiden Rumänen in Deutschland kostet. Einsatzorte: das Hermann-Geibel-Haus und das Katharina-Luther-Haus des Ev. Johanneswerks in Gütersloh.
»Einen Austausch zwischen Johanneswerk und Neuendettelsau gibt es im Weiterbildungsbereich schon länger, und der ist so erfolgreich, dass wir uns auch gerne für den rumänischen Austausch engagiert haben«, sagt Peter König, Geschäftsführer in der Region Gütersloh.
Praktische Erfahrungen sammeln und die graue Theorie der Hörsäle in die gelebte Realität zu verlassen, finden Andrei und Attila spannend, anregend, aufregend. »Im Studium machen wir viel Betriebswirtschaft und behandeln ökonomische Fragen«, sagt Attila. Schließlich müssten soziale Einrichtungen auch wirtschaftlich sein. Im Hermann-Geibel-Haus und im Katharina-Luther-Haus in Gütersloh begegnet ihnen etwas, das sie über ein Buch gebeugt nicht lernen können: der tägliche Umgang mit älteren Menschen. »Wir haben in allen Bereichen der Einrichtungen mitarbeiten dürfen.« Menschen zu pflegen und zu verpflegen, für sie zu kochen oder mit ihnen etwas zu unternehmen, sie wahrzunehmen und für sie da zu sein, dafür sorgte der begleitende Dienst in den Einrichtungen. »Die Mitarbeiter sind alle sehr professionell und kompetent, und die Atmosphäre ist sehr entspannt«, geraten die Studenten regelrecht ins Schwärmen.
Leni Bischowski schwärmt auch. Die 82-jährige sitzt im Rollstuhl und hat die beiden Studenten schon längst in ihr Herz geschlossen: »Die sind immer unglaublich hilfsbereit und sehr gut erzogen.« Leni Bischowski weiß wahrscheinlich mehr über die Herkunft der beiden Rumänen als mancher Jugendliche heute. Sibiu liegt im Bezirk Siebenbürgen im Süden des 22,4 Millionen Einwohner zählenden Landes. Dort lebt heute nur noch ein geringer Teil der deutschen Minderheit, die den südosteuropäischen Staat Rumänien über Jahrhunderte geprägt hat. Siebenbürger Sachsen, Siebenbürger Landler und Donauschwaben stellen nach großen Auswanderungswellen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 80er Jahren nur noch fünf Prozent der Bevölkerung. Rumänien, das seit 2005 Beitrittskandidat zur Europäischen Union ist, kämpft mit Folgen der Ceausescu-Ära, Armut, Drogen- und Menschenhandel sind aktuelle Probleme. Der 1989 hingerichtete Präsident hatte das Land, das er zu einer Großmacht machen wollte, bis zur Kreditunwürdigkeit abgewirtschaftet. Nach der Wende blickte die Welt entsetzt auf die Zustände im Kinderheim Cighid, auf bitterste Armut und menschenunwürdige Lebensbedingungen. Aber auch ältere Menschen waren durch das soziale Netz gefallen, wurden zum Teil nicht mehr behandelt und erhielten keine Medikamente. Attila und Andrei wissen, dass die staatlichen Alteneinrichtungen in Rumänien auch heute noch nicht auf westlichem Niveau arbeiten. »In Deutschland herrscht eine ganz andere Mentalität«, sagen sie. Alle würden sehr korrekt und nach vereinbarten Regeln arbeiten. Vor allem beeindruckt die beiden aber die Kundenorientiertheit. »Die Menschen stehen immer im Mittelpunkt.« Das gäbe es in ihrer Heimat nur in privaten Einrichtungen.
Nach Seminartagen in Neuendettelsau schließen Attila und Andrei, die als Jugendliche beim Roten Kreuz und bei den Pfadfindern Lust auf die Arbeit mit Menschen bekamen, in der Behinderteneinrichtung des Johanneswerks in Essen ihren Deutschlandaufenthalt ab. Alles, was sie gesehen, gelernt und wahrgenommen haben, wollen sie natürlich in Rumänien in ihre Arbeit einbringen. »Mal gucken, wie das gehen kann«, sind die beiden über den Erfahrungs-Export in ihre Heimat noch etwas unsicher, wenn auch fest entschlossen.

Artikel vom 30.06.2005