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Trotz seines glänzenden Sieges über den Bullen immer noch missgelaunt, sprang Hansen vom Halligufer hinunter, knallte seine Sachen auf den nassen Sand und warf sich daneben, um sich mit den Händen im Nacken fortzuträumen.
Die nebeneinander aufgereihten Rinderköpfe, die von der Halligkante auf ihn herunterstarrten, ignorierte er. Die taten ihm nichts. Wirk hatte ihm eine Menge beigebracht.

Die Sonne schwebte als leuchtende Scheibe mit einem goldenen Kranz knapp über dem Horizont, als Hansen und Jorke sich aufmachten, um die Langenesser Quelle im Watt zu suchen. Er trug den Spaten, und Jorke überließ er die Führung.
Jorke visierte über der flach ausgestreckten Hand das äußerste Ende von Föhr an, wo in der klaren Abendluft sogar einzelne Häuser und die Mühle erkennbar waren. Sie nahm Kurs auf den schwarzen Strich eines Hafengebäudes oder der Mole, die am Wasser endeten, und Hansen folgte ihr schweigend.
Seine Augen blieben auf Jorkes hellem luftigen Kleid haften, das fast städtisch war und das genaue Gegenteil von der dunklen Tracht, die die älteren Halligfrauen trugen. Auf dem Kopf hatte sie einen Strohhut, dessen Krempe ihre Augen vor der niedrig stehenden Sonne und dem Glitzern des Wassers in den zurückgebliebenen Pfützen schützte.
Sönke Hansens Gedanken kehrten zu dem anderen Strohhut mit einem blauen und einem roten flatternden Bändchen zurück. Der Kerl, der auf der Andrea I gewesen war, trug für gewöhnlich sicherlich keinen solchen Hut.
Wenn man davon ausging, dass er es war, der Boy Jensen mit Hansen verwechselt und dann getötet hatte, musste er ihm gefolgt sein. Er musste, nachdem er Frau Godbersen ausgefragt hatte, ihn schon in Husum beobachtet und zu seiner Überraschung festgestellt haben, dass Hansen an diesem Tag nicht ins Amt ging, sondern das Schiff nach Amrum bestieg. Dann machte es Sinn zu vermuten, dass er versucht hatte, sich in letzter Minute als Badegast auszustaffieren und sich deshalb den Strohhut besorgt hatte. Aber er war kein Badegast, und noch weniger als nach Amrum gehörte er auf den Luxusliner der Nordsee-Linie, denn die Passage konnte sich nicht jeder leisten.
Falls das alles stimmte, musste ihn jemand mit viel Geld ausgestattet haben, damit er in jeder Hinsicht beweglich war. »Das Rum-Kontor!«, stieß Hansen aus und merkte erst, dass er laut gesprochen hatte, als Jorke sich zu ihm umdrehte.
»Was meintest du?«
»Ich führte ein Selbstgespräch«, erklärte er verlegen. »Mir ist gerade aufgegangen, wer mir nach dem Leben trachtet.«
»Ja, wir hören immer wieder davon, wie gefährlich das Leben auf dem Festland ist«, stimmte Jorke mitfühlend zu, wartete auf Hansen, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte, und überprüfte ein weiteres Mal ihre Wanderrichtung.
Hansen musste lachen. »Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, widersprach er.
»Etwas weiter noch«, murmelte Jorke, »aber nicht sehr. Hier irgendwo muss sie sein. Die St. Nicolai-Kirche, die Ketelswarf und wir befinden uns auf einer Linie, etwas östlicher die Wyker Mühle, und die Entfernung dürfte ungefähr stimmen.«
Hansen nahm die Schaufel von der Schulter, während Jorke in engen Schlangenlinien über das Sandwatt schnürte. »Hier. Probiere es hier einmal«, sagte sie bestimmt.
»Wie kommt es eigentlich, dass du so viel vom Segeln verstehst?«, erkundigte er sich, während er zu graben anfing.
»Meine Brüder hatten ein kleines Boot. Und auf mich sollten sie aufpassen É Mutter wusste gar nicht, dass sie mich mit hinausnahmen. Aber ich habe dadurch Blut geleckt und bin später allein gesegelt.«
Hansen dachte daran zurück, wie er sich vorgestellt hatte, Jorke als Vorschoter anzulernen, und lächelte in sich hinein. Dann hörte er auf zu graben. Hier gab es nur einzelne Muschelschalen und kein bisschen Süßwasser.
Jorke zeigte ihm eine andere Stelle.
»Hoffentlich finden wir sie überhaupt«, meinte sie, nach mehreren weiteren vergeblichen Versuchen allmählich bedrückt. »Wir sind ziemlich spät dran.«
Sönke Hansen nickte und sah sich forschend um. »Wie wäre es damit?«, fragte er.
Jorkes Blick folgte seinem Zeigefinger. Sie zuckte die Achseln. »Ein Versuch ist so gut wie der andere.«
Dieser Versuch war jedoch besser. Schon nach dem ersten Spatenstich sprudelte ein Rinnsal aus einem Loch, das wie von einer Klaffmuschel geschaffen schien. Als die vergrößerte Kuhle sich schnell mit Wasser füllte, hockte Jorke sich hin und kostete es aus der Höhlung ihrer Hand. »Tatsächlich Frischwasser!«, rief sie. »Woher wusstest du, dass es hier sein muss?«
»Oh«, sagte Sönke Hansen und stieß lachend den Spaten in den Sand, »ich weiß eine Menge über Rinder, hat es sich noch nicht herumgesprochen?«
Jorke sah verblüfft zu ihm hoch. »Ich dachte, ich hätte das Gegenteil gehört.«
»Ist mir unbegreiflich. Als Kenner sieht man doch, dass die Viecher hier eine richtige Kuhle in das Watt getrampelt haben. Oder nicht?« Hansen zwinkerte Jorke zu und half ihr auf.
Kapitel 22
A
m nächsten Tag wurde Hansen ein Brief des Kapitänleutnants von Frechen ausgeliefert.

Sehr geehrter Herr Bauinspektor Hansen,
mit Bezug auf die von Ihnen gewünschten Nachforschungen und unter Berücksichtigung der Kürze der Zeit möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Olivia weder in »Lloyds Register of Shipping« noch im Germanischen Lloyd als klassifiziertes Schiff aufgefunden werden kann. Auch eine Vermisstenmeldung o. Ä. war dort nicht aufgeführt.
Im »Handbuch für die deutsche Handelsmarine« ist keine Olivia enthalten.
Hingegen erhielt ich bei einer zufälligen Begegnung im hiesigen Bureau der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft (HAPAG) eine Auskunft, die Ihnen möglicherweise von Nutzen sein kann: Der dänische Reeder und Kaufmann O. Johannsen mit Sitz im damalig dänischen Hadersleben hatte einen Dampfer namens Olivia auf eigene Rechnung bauen lassen und im Post- und Paketdienst zwischen dem Königreich und Westindien eingesetzt. Der Informant beschrieb mir ein Schiff, das dem von Ihnen gesuchten zumindest nahe kommt.
HochachtungsvollÉ

Hansens Herz machte ein paar Extrasprünge. Vielleicht war sie das! Und gerade der erste Eigner pflegte Erinnerungen an sein Schiff aufzubewahren, vielleicht ein Ölbild oder sogar Risszeichnungen. Außerdem wurde er wieder mit der Nase auf Hadersleben gestoßen. Die Bedeutung der Stadt für seine Nachforschungen konnte er derzeit nicht ermessen. Aber natürlich würde er sofort hinfahren. Vielleicht lag die Erklärung für den Mord nicht an der West-, sondern an der Ostküste.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.07.2005