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Leitartikel
Zu hohe Lohnnebenkosten

Umsteuern
geht mit Mehrwert


Von Bernhard Hertlein
Je näher eine Partei der Macht rückt, desto schwieriger scheint es, Wahrheiten zu vertreten und durchzusetzen. Dabei sollte Angela Merkel ihren Parteikollegen in der Diskussion um eine Mehrwertsteuer-Erhöhung eigentlich Megaphone reichen und keine Maulkörbe verpassen. Das Volk weiß, dass sich etwas verändern muss. Aber es will vor der Wahl wissen, was die Parteien planen. Schweigen ist nur eine besondere Form der Lüge.
Nun schießen sich alle - vom Einzelhandel bis zur SPD - auf die Mehrwertsteuer-Erhöhung ein, noch bevor sie überhaupt Wahlprogramm geworden ist. Das gehört zu den Ritualen, die jede Veränderung in Deutschland so schwer macht. In den Bereich der Demagogie gehört, wenn »Mehrwertsteuer« mit »mehr Steuern« gleichgesetzt wird.
Im Gespräch ist eine Erhöhung um bis zu vier Prozent. Das wäre ein gewaltiger Schritt, der etwa 32 Milliarden Euro in den Staatssäckel brächte. Für den Verbraucher bedeutete dies: Ein Auto, das vorher 30 000 Euro gekostet hat, verteuert sich auf 31 200. Die zusätzlichen Euros könnten die meisten Käufer eines solchen Autos vermutlich aufbringen. Etwas anders ist die Situation bei denen, die um jeden Cent ringen müssen. Deshalb sollte der Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel so niedrig bleiben wie er im Augenblick ist.
Alle in Deutschland wissen: Der Faktor Arbeit muss billiger werden. Schon der Abstand zu einigen umliegenden Staaten ist zu groß. Die Löhne und Gehälter sollen und können jedoch gar nicht so gesenkt werden, wie es sich vielleicht manche Verbandsvertreter im Arbeitgeberlager wünschen. Bleiben die hohen Lohnnebenkosten. Hier sind weitere Einschnitte ins soziale Netz im großen Stil kaum umzusetzen. Unten wartet Hartz IV, oben das Recht der Arbeitnehmer, für bezahlte Versicherungsbeiträge auch eine Gegenleistung zu erhalten.
Wenn nicht umverteilt werden kann, muss trotzdem umgesteuert werden. Eigentlich ist es längst klar: Das von CDU/CSU in Zeiten der Vollbeschäftigung eingeführte sozialpartnerschaftliche Bezahlen der Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträge ist nicht mehr zeitgemäß. Ein Mangelprodukt, nämlich der Arbeitsplatz, wird dadurch noch teurer - zu kostspielig im Vergleich zu konkurrierenden Standorten direkt vor der Landesgrenze.
Da der Griff in die Schuldenkasse endgültig tabu sein muss, bleibt als wichtigster Beitrag für eine spürbare Senkung der Lohnnebenkosten nur das Mittel der Mehrwertsteuererhöhung. Was das auslöst, ist klar: Viele werden größere Einkäufe wie das Fernsehgerät oder das neue Auto vorziehen. Ob und wie lange die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen danach zurückgehen wird, hängt sehr von der Stimmung ab. Ist - durch die Senkung der Lohnnebenkosten -Ê mehr Geld in der Tasche und sind mehr Menschen wieder in Beschäftigung, geht es auch insgesamt wieder aufwärts.

Artikel vom 29.06.2005