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Merkel lässt sich ungern
in die Karten schauen

CDU-Kanzlerkandidatin will in Europa Akzente setzen

Von Ralf Rafalski
Berlin (dpa). Kanzlerkandidatin Angela Merkel lässt sich in diesen Wahlkampfzeiten ungern in die Programm-Karten schauen. Der Wähler soll nicht verschreckt werden. Dass dies auch für die Europapolitik gilt, hat andere Gründe.

Der Ausgang der doppelten Krise in der EU - um die Verfassung und die Finanzen - ist so ungewiss, dass niemand in Berlin eine Prognose wagt. Schon gar nicht unter dem Eindruck eines möglichen Regierungswechsels. Sicher ist: An den Grundlinien der deutschen Europa-Politik wird auch eine Kanzlerin Angela Merkel nichts ändern. Sie und der FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt, der als Außenminister einer schwarz-gelben Koalition gehandelt wird, sind beide Anhänger einer in wichtigen Feldern integrierten politischen Union. Eine grenzenlos erweiterte EU als gehobene Freihandelszone, wie sie vor allem Tony Blair als Ziel zugeschrieben wird, ist ihre Sache nicht.
Dennoch haben Merkel und Gerhardt betont positiv auf die Programm-Rede des britischen Regierungschefs vor dem Europa-Parlament reagiert, der eine grundlegende Reform der EU und - vor allem - politische Führung angemahnt hat. In der Sinnkrise der Gemeinschaft wittert vor allem Merkel die Möglichkeit, rasch neue Akzente zu setzen, sollte sie im September Regierungschefin werden. »Es gibt deutlich ein Führungsvakuum in der EU, da hat sie eine große Chance«, analysieren ihre europapolitischen Berater.
Merkel ist außenpolitisch ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt. Durchgehalten hat sie allerdings bislang ihre Ablehnung einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. Im Kreis der konservativen Partei- und Regierungschefs der Gemeinschaft blieb sie im Dezember 2004 mit dieser Position alleine. Nach den gescheiterten EU-Verfassungsbefragungen in Frankreich und den Niederlanden, bei denen auch die EU-Erweiterungspolitik eine Rolle spielte, sieht sie sich nicht mehr isoliert.
So dringen jetzt führende Unionspolitiker erneut darauf, dass in den Verhandlungsrahmen für die am 3. Oktober beginnenden Beitrittsgespräche mit der Türkei ausdrücklich auch eine Stufe unterhalb der Vollmitgliedschaft als Ziel festgeschrieben wird. Die EU-Kommission entscheidet am Mittwoch darüber. Auch in der FDP ist man sich inzwischen sicher, dass die Türkei nicht EU-Mitglied werden wird. Die Frage ist nur, wie bringt man das dem Land ohne zu großen außenpolitischen Schaden bei.
Akzentverschiebungen wird es bei einem Koalitionswechsel erklärtermaßen auch bei den bevorzugten Partnerschaften geben. »Die Zeiten der Achsen-Strategie etwa zwischen Paris, Berlin und Moskau sind vorbei«, sagen Merkel-Vertraute. Sie fügen hinzu: »Wir brauchen jemanden in der EU, der Brücken in alle Richtungen baut.« Berlin wieder in einer Vermittlerrolle zwischen den großen und den kleinen Partnern, zwischen Ost und West wie zu Helmut Kohls Zeiten - allerdings ohne das deutsche Scheckbuch, das früher viele EU-Krisen mildern half: Davon träumen derzeit die Europapolitiker in der Union.
Für einen anderen Traum sehen sie kaum Realisierungschancen. Um die Koordinierung der Europapolitik effizienter zu gestalten, gibt es in der Union starke Stimmen für die Schaffung des Amts eines Europaministers. Das hatte bereits SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchzusetzen versucht. Er biss beim grünen Außenminister Joschka Fischer auf Granit, der die Europa-Kompetenz nicht abgeben wollte.
Dass Merkel hier erfolgreicher sein wird, gilt als sehr fraglich.
Seite 2: Leitartikel

Artikel vom 27.06.2005