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Abwehrturm mit Übersicht

Hannovers Per Mertesacker verteidigt Deutschland in aller Ruhe

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Nürnberg (WB). Der »Lange von der Leine« ist die Ruhe selbst. Man hat Per Mertesacker selten die Contenance verlieren sehen. Er wüsste auch gar nicht, wieso ihm das passieren sollte. »Mich bringt nichts aus der Fassung«, sagt er mit bedächtiger Stimme. Ähnlich unaufgeregt betreibt er auch seinen Job.
20 Jahre - aber manchmal schon wie ein alter Hase: Per Mertesacker.
Der sieht vor, Angreifer an ihrem Tun zu hindern. Seine 198 Zentimeter stellt er zu diesem Zweck Hannover 96 und der deutschen Nationalmannschaft zur Verfügung. An soviel Größe soll kein Stürmerweg vorbei führen. Zu übersehen ist Mertesacker nicht, kürzlich erblickten ihn die Zuschauer sogar in einem artfremden Aufenthaltsgebiet. Da knallte er den nichts ahnenden Australiern den Ball ins Netz. Anschließend lag der Schütze ganz platt auf dem Boden - vor lauter Staunen, dass ihm nun auch sein erster Länderspieltreffer gelungen war.
Es war das willkommene Abfallprodukt eines Ausflugs nach vorn, den Mertesacker nicht immer unternimmt. Vor allem gegen die Argentinier war er zum Abschirmdienst gezwungen. Wie ein Turm im Strafraum sieht er dann aus. Was kommt, wird weggeputzt. Den besten Überblick hat er sicher, die Übersicht behält er meistens. Gegen Brasilien wird er am heutigen Samstag im Halbfinale des Confederation Cups zum elften Mal im DFB-Auftrag abräumen.
Dabei kannten Per Mertesacker bis vor eineinhalb Jahren allenfalls die Niedersachsen in und um die Hauptstadt herum. Beim TSV Pattensen hatte der kleine Per mit Fußball angefangen, seit 1995 ist er im wenige Kilometer entfernten Hannover bei »96« zum großen Jungen geworden. A-Jugend, Amateure, Bundesliga. Und plötzlich klingelte es bei ihm. Den überraschenden Anrufer identifizierte Mertesacker sofort. »Es war Jürgen Klinsmann, ich habe ihn gleich an seiner Stimme erkannt.«
Wenn die ganze Geschichte nicht wahr wäre, könnte sie glatt für ein Märchen durchgehen. Ob es auch Mertesacker so vorkommen würde, weiß er nicht einmal, weil es seine Gedanken mit dem Tempo des Aufstiegs gar nicht aufnehmen können: »Ich war in der Jugend oft nur zweite Wahl. Dann kam die Viererkette in Mode, und ich stand mittendrin. Es ging rasend schnell. Mir blieb kaum Gelegenheit, mich damit auseinanderzusetzen.« Nur soviel begriff er: Die WM 2006 war auf einmal kein Traum mehr.
Doch auch das lässt ihn jetzt nicht um Fassung ringen. »Er ist schon sehr abgeklärt für sein Alter«, sagt Bundestrainer-Assistent Joachim Löw über den 20-Jährigen und lobt dazu die fußballerischen Fähigkeiten des Frischlings, zu denen - und darüber wundert sich jetzt niemand - die Kopfballstärke gehört.
Abheben ist bei ihm trotzdem nicht drin. Mertesacker wohnt noch im elterlichen Haus, legt Wert auf Familie und Freunde. Er vertraut darauf, dass die ihn runterholen, wenn er allzu hoch hinaus fliegt. Mertesacker ist auch zu schlau, um die Gefahren nicht zu sehen, die auf Jungstars lauern. Schulterklopfer haben es bei ihm ohnehin schwer. So hoch reichen die meisten gar nicht. Bodenhaftung bewahrt der Riese bei seiner Karriereplanung. »Ich habe doch erst eine komplette Saison in der Bundesliga hinter mir und muss mich auch bei Hannover weiter etablieren. Dieser Verein hilft mir auf dem Weg nach oben. Ich will nicht zu früh wechseln«, entgegnet er allen Interessenten, die schon jetzt den Angelhaken auswerfen.
Arsenal, das wäre eines Tages vielleicht was. Mertesacker hat eine Vorliebe für die englischen Klubs, doch nicht jetzt. Wer es über Hannover 96 in die DFB-Auswahl bringt, hat auch die Möglichkeit, sich ohne internationale Bühne darin zu behaupten. Auch wenn Mertesacker weiß, dass er auf Dauer doch nur in einem Spitzenklub und den großen europäischen Wettbewerben weiterkommt. Noch genießt er das heimatliche Umfeld, fühlt sich wohl und findet es gut so, wie es ist.
Damit kann er auch den größten Stress bewältigen. Dass nach den Argentiniern jetzt auch die Brasilianer anrücken, ist auch nichts gegen das Frühjahr 2004, als Mertesacker so richtig ran musste. In der Schule schaffte er das Abitur, auf dem Sportplatz mit Hannover 96 den Klassenerhalt. Es war mit 18 Jahren die doppelte Reifeprüfung. Da kann er jetzt in aller Ruhe Deutschland verteidigen.

Artikel vom 25.06.2005