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Lügnerin!«, versetzte der Ratmann verächtlich und kramte anschließend in seiner Jackentasche, um eine Pfeife herauszuholen, zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war.
Jorke warf Hansen einen langen, bedeutungsvollen Blick zu. Forderte sie ihn wirklich auf, ihre Aussage zu bestätigen? Er hob ungläubig die Augenbrauen, und sie nickte ernsthaft.
»Einen Augenblick, Tete Friedrichsen«, mischte Hansen sich vernehmlich ein. »Es wird mir jetzt erst klar, von welchem Morgen ihr beiden sprecht. Ich kann bezeugen, was Jorke beobachtet hat, weil ich am Ufer war. Du hast mich sogar angesprochen, erinnerst du dich?«
Die Pfeife in Friedrichsens Hand, die er noch nicht angezündet hatte, zitterte. Aber, die blassblauen Augen auf Hansen gerichtet, er schien bereit, ihn anzugehen wie ein wütender Eber.
»Du bist hinter mir mit einem Kleispaten auf das Halligland hochgestiegen, und deine Spuren führten schräg fort vom Nordmarscher Ufer auf das Langenesser Watt und wieder zurück. Der Spaten und deine Stiefel waren voll von Schlick, das Netz aber war sauber und trocken, das fiel mir auf. Es sollte wohl nur den Spaten verbergen.«
»Hure!«, stieß Friedrichsen aus, ohne sich auf Hansen einzulassen.
Jorke gab ihm eine schallende Ohrfeige. Friedrichsen flog die Pfeife aus der Hand.
Ein älterer Mann hob sie auf und reichte sie dem Ratmann bedächtig. »Was Jorke macht, ist ihre Sache und geht niemanden etwas an. Unsere Quelle zuzuschütten ist etwas ganz anderes, Tete. Die ist Allgemeinbesitz der Langenesser. Und wenn wir uns mit euch gestritten haben, dann nur wegen ihr. Was fällt dir ein, sie zu zerstören! Und wo wir doch jetzt bald eine einzige Hallig werden, ist das auch noch dumm von dir!«
Das ernste Nicken seiner Nachbarn bestätigte seine Rede. Hansen wunderte sich trotzdem, dass sie so ruhig blieben.
»Danke, Melff«, rief Jorke.
»Wir bleiben Nordmarscher, schreib dir das hinter die Ohren!«, giftete Friedrichsen rechthaberisch. »Wenn wir kein Vieh hintreiben dürfen, sollt ihr es auch nicht. Und jetzt ist der ewige Streit endlich beendet.«
Der Langenesser schüttelte unnachgiebig den Kopf. »Mit dieser Erklärung ist es nicht getan, Tete. Es gibt einen Zeugen, der nicht von der Hallig stammt, und deshalb müssen wir die Angelegenheit unter allen, die Vieh haben, ordentlich regeln. Wir sind keine Wilden!«
Friedrichsen knurrte leise, widersprach aber nicht, augenscheinlich, um die Angelegenheit nicht noch zu verschlimmern.
Wie ernst sie von allen genommen wurde, zeigte das dumpfe und störrische Schweigen, das sich über das Boot legte. Es hielt noch an, als die Halligleute im Wyker Hafen von Bord gingen und sich in verschiedene Richtungen zerstreuten.
Jorke stand vor Hansen auf dem Kai. Sie drehte sich zu ihm um. Zahllose Löckchen umspielten ihr Gesicht, und während Sönke Hansen ihr wie gebannt in die klaren blauen Augen blickte, zog sie ihn zu sich herunter und gab ihm vor aller Augen einen Kuss auf die Wange. »Hast du einen Augenblick Zeit? Ich möchte dir noch etwas sagen, bevor du abreist.«
Hansens Herz klopfte laut, er fühlte sich überrumpelt, und die Beklemmung stieg ihm in die Kehle, so dass er nur nicken konnte.
»Ich weiß, dass es dir schwer fallen musste, praktisch vor Zeugen zu bekennen, dass du die Nacht bei mir gewesen bist«, sagte Jorke ernst. »Danke, dass du es getan hast, du hast eine Prüfung, die ich nicht wollte, bestanden. Es gibt wenige Männer wie dich. Die meisten sind Feiglinge in solchen Situationen - der Vorwand ist, dass sie auf die Frau Rücksicht nehmen müssen. Mutter hatte für solche Kerle einen guten Spruch: Du büst en Held in de Boddermelk - wenn de Klümp rut sünd!« (»Du bist ein Held in der Buttermilch - wenn die Bröckchen raus sind.«)
Er musste sie angeglotzt haben wie ein Ochse, den jemand melken wollte. Jorkes Miene zeigte jedenfalls Mitgefühl, dann lächelte sie. Und den Satz, der dann folgte, würde er nie vergessen.
»Ich wünsche dir viel Glück mit Gerda. Du hast im Schlaf von ihr gesprochen«, fügte sie hinzu.
»Du bist mir die Zweitliebste auf der Welt«, flüsterte Hansen Jorke unendlich erleichtert ins Ohr und umarmte sie ungestüm.
Sönke Hansen holte sich für die Bahnfahrt nach Husum wieder einmal eine Fahrkarte dritter Klasse, obwohl er als Beamter Anspruch auf die gepolsterten Sitze der zweiten hatte. Dabei hätte er zweifellos seiner Flöhe wegen sogar in die Holzklasse gehört.
Als er einstieg, waren seine Gedanken immer noch bei Jorke. Jetzt, da er wusste, dass sie mit sich und ihm im Reinen war, konnte er sich eingestehen, dass er sich in sie ein wenig verliebt hatte.
Die Sitzbank war hart und unbequem. Er rückte sich in einer Ecke zurecht und begann von Jorke zu träumen. Bis er sich gewaltsam von ihr losriss und die Föhrer Zeitung aufschlug, in der ein hochinteressanter Artikel über die Entwicklung der Schifffahrt und neue Schiffbautechniken ihn zu fesseln begann.
Als die Struckumer Mühle in Sicht kam, versanken allmählich die Halligen und Inseln hinter Hansen. Er faltete die Zeitung zusammen und begann seine nächsten Schritte zu planen. Nach Hause fuhr er eigentlich nur, um die Kleidung zu wechseln. Inzwischen war der erste Floh in seiner Weiche angelangt, wo es sich vermutlich besonders gut lebte, wie Hansen aus der wachsenden Beißlust schloss. Kratzen vertrieb das Tier nicht, das hatte er schon versucht. Und die Unterhose mit Noppekrut auszustopfen war auch keine Lösung.
Am nächsten Morgen kam Frau Godbersen, bevor es Hansen gelungen war, rechtzeitig die Wohnung zu verlassen. Ihm blieb aber auch nichts erspart! »Ein Hemd ist etwas blutig geworden«, bekannte er und hielt es ihr hin. »Und die Hose hat Flöhe, was man mit der machen muss, weiß ich nicht. Vielleicht eine Katze hineinsetzen?«
»Inspektor«, stammelte Petrine Godbersen erschüttert. »Was ist in letzter Zeit nur mit Ihnen los?«
»Es gehört zu meiner Arbeit«, sagte Hansen verlegen. »Ich verspreche Ihnen, dass bald alles wieder so ist wie früher.«
»Wie früher, oder wie ganz früher?«
Hansen seufzte unhörbar. Natürlich wusste er, was sie meinte. »Nein, ich habe Gerda noch nicht gefunden.«
»Wie früher also. Nun, das würde mir fürs Erste reichen, Herr Hansen. Was haben Sie als Nächstes vor? Ich dachte, Sie blieben länger auf der Hallig.«
»Stimmt, aber jetzt muss ich erst noch nach Flensburg«, antwortete er, erleichtert, dass die Inquisition schon vorüber war.
»Nach Flensburg. Dann habe ich ein Paket für Sie.« Petrine Godbersen verschwand in der Waschküche, um mit einem in Papier eingewickelten Bündel zurückzukehren, das sie Hansen in den Arm legte.
Er sah sie fragend an.
»Die Kleidung, in der Sie neulich aus Flensburg kamen. Sie ist gewaschen und geflickt. Es ist mir lieber, Sie geben Sie sofort zurück!«
»Oh! Daran hätte ich nicht gedacht.«
»Natürlich nicht. Wann denkt ein Mann schon an solche Dinge. Ich gebe sie Ihnen mit, von Hausfrau zu Hausfrau gewissermaßen. Mit einem schönen Gruß.«
»Die Hausfrau der Rumboddel ist der Wirt, glaube ich«, bekannte Hansen.
»Rumboddel! Und der Wirt einer Kneipe als Hausfrau! Danach sieht seine Kleidung auch aus. Übrigens auch der Anzug, in dem Sie offenbar reisen wollen! Abgetragen und schäbig! Ich hätte ihn fortwerfen sollen, statt ihn auf den Dachboden zu hängen«, sagte Frau Godbersen missbilligend und entließ Hansen mit zusammengepressten Lippen.

Kapitel 19An diesem späten Vormittag war in der Rumboddel nur der Wirt tätig. Klein und gedrungen, wie er war, schaute hinter der halbhohen Wand nur sein Kopf heraus, und der schien nicht besonders fröhlich. Unter misstönendem Geklapper und Geklirre spülte er Gläser. Sönke Hansen umging den aufgeblasenen Kugelfisch und legte dem Wirt das Paket auf die Theke.
»Was ist das?«, fragte der Wirt missmutig.
»Die Kleidung, die Sie mir geliehen hatten, gewaschen und geflickt, hat meine Haushälterin gesagt. Und sie arbeitet sehr sorgfältig.«
»Im Ernst?«, fragte der Wirt ungläubig und schlug mit der tropfenden Hand eine Seite des Packpapiers auf, um in das Bündel hineinzuspähen.
»Unbedingt. Ich weiß es genau, sie ist schon seit drei Jahren bei mir!«
»Den Troyer hat sie in Ordnung gebracht! Der stammt von der Elbkante, ich erinnere mich noch an den Kerl und seine Abenteuer. Den werde ich selbst anziehen.«
»Und die Geschichten des Kerls?«, fragte Hansen spaßeshalber.
»Die gehören natürlich zum Troyer«, antwortete der Wirt glatt. »Nett, dass Sie das Zeug zurückgebracht haben, das macht selten jemand.«
»Das war doch selbstverständlich«, erwiderte Hansen im Brustton der Überzeugung. »Können Sie mir nochmals helfen? Ich wüsste gerne mehr über Fiete Rum.«
Der Wirt verzog sein grobes Gesicht. »Da er gelegentlich Kunde bei mir ist, dürfte ich eigentlich nichts Schlechtes von ihm sagen.«
»Aber?«
»Ich will ihn in Zukunft hier sowieso nicht mehr sehen. Er geht zu weit, und ich muss auch an meine anderen Gäste denken. Fiete Rum ist ein Streithahn und Krawallmacher.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.07.2005