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Verletzt hatte er sich lebend auf die Seesand-Bake gerettet, war aber schließlich tot auf Nordmarsch angetrieben.
Wenn man beide Ereignisse in einen Zusammenhang brachte, wurde die Olivia plötzlich außerordentlich interessant. Vor allem, wenn man ins Kalkül zog, dass der illegale Dreieckshandel möglicherweise weiterexistierte, nur war das Ziel jetzt Brasilien statt der Karibik und die Handelsware nicht Zuckerrohr, sondern Kaffee. Davon unberührt blieb der Handel mit Waffen und Sklaven.
Hansen überflog seine Notizen. Sie fügten sich zu einem sehr schlüssigen Bild zusammen. Sein Gefühl sagte ihm, dass es sich bei dem festgekommenen Schiff wahrscheinlich um die Olivia handelte. Er musste unbedingt feststellen, wohin sie gefahren war, nachdem sie den Flensburger Hafen verlassen hatte.
Aber sein Gefühl der Zufriedenheit verlor sich rasch. Vielleicht hatte er sich total verrannt und Dinge miteinander in Verbindung gebracht, die gar nichts miteinander zu tun hatten.
Leise seufzend warf er einen Blick aus dem Fenster. Später Nachmittag, kurz vor Hochwasser seiner Berechnung nach. Die Kleine Auster war ziemlich schmuddelig gewesen. Er fühlte sich immer noch schmutzig und beschloss, baden zu gehen.
Ein melancholisches Lied falsch pfeifend, wanderte Hansen den Fußweg Richtung Kirchwarf entlang. Vor dem Heeg bog er nach Hallge ab, wo er wegen des feinen Sandes am liebsten badete.
An diesem Tag waren die Vögel aggressiv. Die Seeschwalben stießen schreiend auf ihn hinunter. Er vernahm ein sirrendes Geräusch von Flügeln und spürte im selben Moment einen heftigen Schmerz im Oberarm. Sein Hemd wies ein kleines Loch auf.
Irgendwie machte es Hansen sprachlos, dass ihm so etwas passieren konnte. Nicht nur Mordversuche auf dem Festland, selbst hier auf der Hallig Unfreundlichkeiten, die er nicht verdient hatte.
Seine Laune sank plötzlich auf einen Tiefpunkt.
Und keine langen Stöcke zum Schutz vor Möwen in Sicht. Er fand nur einen kurzen, dicken Knüppel, den er sich über die Schulter legte. Fest entschlossen, sich keine Übergriffe mehr bieten zu lassen, marschierte Hansen weiter, trampelte über lila blühende Grasnelken und gelbe Hahnenfüße hinweg, und es war ihm völlig gleichgültig, dass er sich wie ein Großstädter aufführte.
Es wunderte Hansen nicht einmal mehr, dass jemand seinen Lieblingsbadeplatz besetzt hatte. Verärgert wollte er umkehren, als die Person, die bis zur Brust im Wasser stand, mit beachtenswerter Geschwindigkeit auf das Ufer zuzukraulen begann.
»Moin, Sönke«, schrie Wirk begeistert und atemlos, als er in Ufernähe auf die Füße kam. »Seit wann bist du zurück? Und wen willst du mit dem Knüppel erschlagen? Oder wärmst du nur dein Ohr?«
Wider Willen musste Hansen lachen. Er holte aus und schleuderte das Holz weit hinaus ins Wasser. »Die Seeschwalben hatten mich aufs Korn genommen.«
»Wenigstens erkennst du sie inzwischen. Du machst Fortschritte.«
»Danke, gleichfalls. Ich habe sogar einen Schnabelhieb abbekommen.« Hansen zog sich das Oberhemd aus und inspizierte seinen Arm, wo aus einem kleinen Loch Blut heraussickerte.
»Nicht schlimm«, bemerkte Wirk sachkundig, der inzwischen aus dem Wasser gepatscht und auf das Ufer hochgesprungen war.
»Nein«, seufzte Hansen und ließ sich mit heruntergezogener Hose auf sperriges Kraut fallen, um sie von den Füßen zu streifen. »Aber Petrine Godbersen wird mich ausschimpfen. Oje, ich habe jetzt noch mehr Flohstiche an den Beinen! Diese blöde Kleine Auster!«
»Austern haben doch keine Flöhe, Sönke«, belehrte ihn Wirk überlegen. »Deine Fortschritte sind doch nicht so groß. Wer ist Petrine Godbersen?«
»Meine Zugehfrau«, antwortete Hansen mürrisch. Anscheinend hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Er kratzte an den roten Punkten, die von den Knöcheln bis zu den Knien über seine Beine verteilt waren.
»Stopf dir Noppekrut in die Hosenbeine«, empfahl Wirk. »Flohkraut«, übersetzte er schnell, nachdem er Hansen ins Gesicht gesehen hatte.
»Danke, danke. Friesisch kann ich schon noch«, sagte Hansen grimmig. »Weißt du, ich habe heute keine besonders gute Laune. Nimm mir's nicht übel und halt dich einfach von mir fern.«
»Werd ich nicht«, antwortete Wirk, ganz leise, aber bestimmt. »Erzähl mir, warum du zurück bist. Wegen Jorke? Sie hat schon nach dir gefragt.«
Hansen vergrub sein Gesicht in den Handflächen und atmete ein paar Mal tief durch.
Jorke. Warum nur ließ sie ihn nicht los? Dann schoss er in die Höhe und stürzte sich ins Wasser. Er brauchte jetzt eine Langstrecke für Wettkampfschwimmer, um sich abzureagieren.
Am nächsten Tag blieb Hansen keine Zeit mehr, um vor der Föhrer Tour noch mit Mumme Ipsen zu sprechen. In letzter Minute hetzte er am frühen Morgen zum Ewer. Er erschrak, als er unter den Fahrgästen Jorke entdeckte.
Auf eine Begegnung mit ihr fühlte er sich gänzlich unvorbereitet. In seine heimliche Freude, sie zu sehen, mischte sich die Furcht, dass sie wirklich Ansprüche an ihn zu stellen hatte. Warum hätte sie sich sonst bei Wirk nach ihm erkundigen sollen?
»Moin, Sönke«, grüßte sie unbefangen und setzte sich neben ihn. »Ich wusste gar nicht, dass du auf der Hallig bist. Kommt ihr vorwärts mit eurer Planung?«
»Doch, ja«, stotterte er unbeholfen.
»Wir auch«, sagte Jorke, drehte sich etwas seitwärts, wie um über das Wasser zu spähen, und blinzelte ihm zu.
Überrascht sah er sie an. Sie meinte offensichtlich ohne jeden Hintergedanken die Bedeichung der Hallig.
»Inzwischen haben viele Nordmarscher Vernunft angenommen. Wurde auch Zeit«, sagte Jorke mit erhöhter Lautstärke, um das plötzliche Knattern des Großsegellieks zu übertönen. »Du bist zu hoch am Wind, Bocke. Merkst du das denn nicht?«
Bocke, der junge Mann am Ruder, den Hansen bisher noch nie gesehen hatte, korrigierte mit rotem Gesicht den Kurs. »Mach Platz, sagte der Hahn zum Pferd, oder ich trete dir auf die Füße«, knurrte er höhnisch, aber er fand bei kaum jemandem Zustimmung.
»Wie gesagt, viele Nordmarscher sind inzwischen dafür, dass der Steindeich gebaut wird«, wiederholte Jorke, ohne den wütenden Schiffsführer weiter zu beachten, und sah mit fröhlicher Miene in die Runde.
Sönke Hansen, der seinen Schrecken überwunden hatte und ihren Blicken folgte, erkannte mehrere Halligleute, denen er freundlich zunickte. Dann traf er auf Tete Friedrichsen, der demonstrativ das Gesicht abwandte.
»Mein Vater und ich nicht, Jorke, und wir werden auch nie zustimmen«, versetzte Bocke heftig. »Wir graben uns doch nicht unser eigenes Grab! Rouwert, Tete und Lorns sehen es genauso.«
»Für den Schiffsverkehr werden wir eine annehmbare Lösung ausarbeiten, Bocke«, sagte Hansen ruhig, der inzwischen begriffen hatte, dass Bocke der Sohn des Schiffers der Rüm Hart war. Beide waren offenbar keine begnadeten Seeleute. »Der Steindeich darf nicht dazu führen, dass zwar das Halligland, aber nicht seine Bewohner geschützt werden. Ich hoffe, es gelingt uns, Berlin zu überzeugen, dass ein richtiger Hafen gebaut werden muss. Natürlich nicht für Kriegsschiffe!«
»Was das betrifft, Herr Kriegshafenbauinspektor«, versetzte Friedrichsen höhnisch, »sind wir es schon gewohnt, dass wir von euch Beamten der verschiedensten Dienststellen mit leeren Versprechungen abgespeist oder gleich betrogen werden. Deswegen mögen wir euch nicht sonderlich, verstehst du? Wir hier auf den Halligen sind zwar einfache Leute, aber unsere Ansprüche an Anstand sind höher als auf dem Festland.«
»Ach, ja?«, rief Jorke, sprang auf und baute sich mit den Fäusten in der Seite vor Friedrichsen auf. »Und was ist mit der Langenesser Frischwasserquelle, die du heimlich zugeschüttet hast? Anspruch auf Anstand! Dass ich nicht lache, Herr Halliguferinspektor!«
Sie sah so reizend aus, wie sie gegen Friedrichsen Stellung bezog, wütend und erhitzt, aber sie würde sich nicht kleinkriegen lassen, das wusste er genau. Sönke Hansen betrachtete Jorke mit einem fast stolzen Lächeln, während er aufpasste, dass sie im schwankenden Boot nicht zu Fall kam. Vorsorglich hatte er seine Hand bereits in der Nähe ihres Schürzenbandes.
»Stimmt doch gar nicht!«, bellte Friedrichsen, dem der Zorn aus den Augen sprühte. »Du bist eine närrische Gans, die ohne Verstand schnattert! Niemand außer dir würde wagen, mir so etwas zu unterstellen!«
»Ich habe dich aus dem Langenesser Watt kommen sehen, kurz bevor wir entdeckt haben, dass die Quelle zugeschüttet wurde. Es war ein früher Sonntagmorgen, und du hattest irgendwelche Gerätschaften auf dem Buckel«, beharrte Jorke unerschrocken.
Blitzartig schoss durch Hansens Gedächtnis der Morgen, an dem er am Nordufer entlanggewandert war, noch warm von Jorkes Umarmungen und ihrem Bett, und dem schlickbeschmierten Tete Friedrichsen begegnet war.Jorke musste ihm oben von der Warfkante nachgesehen und Friedrichsen erkannt haben. Zu gerne würde er ihr helfen, aber damit würde er sie kompromittieren. Sie und er - zur gleichen frühen Stunde nicht weit voneinander É (wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.06.2005