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Teilen Sie mir bitte wenigstens mit, ob Boy Jensen ausgeraubt wurde«, bat Hansen.
»Warum sollte ihn jemand ausrauben«, versetzte Schliemann ungeduldig, während seine Hand bereits zur Tür wies. »Zwei Reichstaler hatte er bei sich, glaube ich.«
Die Münze hatte Jensen zwischen den Fingern gehabt, als er sich in der Kleinen Auster für die vorangegangenen Biere erkenntlich zeigen wollte, was Hansen natürlich nicht gestattet hatte.
»Jetzt trollen Sie sich bitte. Machen Sie Ihre Arbeit und lassen uns unsere machen. So fahren wir alle am besten.«
Eher nachdenklich als verärgert erhob Hansen sich und verließ die Wache. Na schön, dachte er gleichmütig. Kommunistische Revolutionäre oder nationalistische Schützenbruderschaften! Zum Lachen! Klar war vor allem, dass diese Polizei sich darum drückte, den Täter zu finden. Bei einer Untersuchung hätten sie ja womöglich die Hautevolee belästigen müssen.
Insgeheim war ihm diese Wendung trotzdem nicht unlieb. Gut vor allem, dass seine Beteiligung nicht an die große Glocke gehängt wurde. Im Stillen konnte er viel besser ermitteln. Denn jetzt hatte er noch viel mehr Grund, es zu tun.
»Haben Sie heute Petermännchen?«, fragte Hansen launig den Wirt des Vernarbten Schulterblattes. Es war noch früh am Tag, und die Schankstube war leer. »Ich hätte sie gerne scharf gebraten und schön giftig.«
Der Wirt grinste und begann, das Bier für Hansen zu zapfen, den er offenbar bereits als Stammgast betrachtete. »Vielleicht könnte ich ein paar Giftschnecken für Sie auftreiben«, meinte er mit einem Augenzwinkern, als er das Glas vor Hansen hinstellte. »Als Ersatz. Die Fischer, die Petermännchen für mich fangen, waren schon tot, bevor sie hier ankamen.«
»Schade. Gibt es wirklich giftige Schnecken? Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir davon«, schlug Hansen vor. »Ich lade Sie ein.«
Einer solchen Aufforderung konnte der Wirt nicht widerstehen, zapfte für sich selbst ein Bier und machte es sich Hansen gegenüber bequem. »Die Schnecken können mit ihrem Stich einem Mann den Garaus machen«, bekräftigte er nach dem ersten Schluck. »Drüben im Stillen Ozean. Da gibt es an Scheußlichkeiten alles, was man sich nur ausmalen kann. Riesenmuscheln, die einem Perlentaucher den Fuß einklemmen, bis er unter Wasser erstickt. Riesenkraken, die eine Viermastbark auf den Grund ziehen können, kirchturmhohe Walungeheuer É«
»Scheint eine ungesunde Gegend zu sein«, meinte Hansen leichthin.
»Gibt viele ungesunde Gegenden auf der Welt«, bestätigte der Wirt.
»Wie ist es mit den Westindischen Inseln? Um ehrlich zu sein, bin ich deswegen hier«, sagte Hansen geradeheraus und drehte, ohne den Mann anzusehen, das Glas zwischen den Händen. »Glaube, dass Sie ein Kenner des Handels mit Westindien sind.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, fragte der Wirt etwas mürrisch.
»Niemand. Ich hatte bei unserem letzten Gespräch den Eindruck, dass Sie selbst früher mal im Sklavenhandel tätig waren. Ich würde gerne von einem Kenner erfahren, wie er ablief. Wofür wurden Halsringe benutzt?«
»Dachte ich mir, dass es um den geht. Wo haben Sie ihn her?«
»Geschenkt bekommen. Ein Erbstück«, erklärte Hansen der Einfachheit wegen.
»Na ja, es ist ja alles lange vorbei«, murmelte der Wirt, der noch mit sich kämpfte.
»Geschichte, gewissermaßen«, bestätigte Hansen beruhigend. »Und die Geschichte eines Erbstückes aus erster Hand zu erfahren ist doch etwas anderes, als darüber zu lesen.«
»Stimmt.« Der Wirt nickte mehrmals und starrte auf die zusammengefügten Kieferknochen eines Wals, ohne sie wirklich wahrzunehmen. »Halsringe. Mit den Ringen ketteten sie die widerspenstigen Sklaven an. Die, die sich laut beklagten, und vor allem die, die schon mal zu fliehen versucht hatten. Dabei predigten die Herrnhuter den Schwarzen alle Sonntage, dass ihnen dieses Schicksal vom Herrn auferlegt worden war und sie nicht dagegen aufbegehren dürften. Aber manche waren unbelehrbar.«
»Mm«, murmelte Hansen.
»Es gab diesen Handel, den sie bei uns nach der Route Dreieckshandel nannten«, sagte der Wirt mit plötzlich entschlossener Miene. »Sie verschifften von hier Flinten und Schnaps nach Schwarzafrika und tauschten sie bei den Muselmanen gegen Neger. Die verkauften sie in Westindien als Sklaven. Dort nahmen sie dann Zucker, Rum, Kaffee und Tabak an Bord und segelten zurück nach Europa. Wenn einer Glück hatte, konnte er in wenigen Jahren reich wie Krösus werden.«
»Wer machte das denn?«
Die Handbewegung des Wirts umfasste die ganze Welt. »Handelsherren aus allen Ländern. Dänen, Deutsche, Holländer, Engländer, Portugiesen É War ja ein glänzendes Geschäft. Sogar die Mannschaften wurden gut bezahlt. Damit sie nicht meuterten.«
»Hätten sie das sonst getan?«
»Na ja. War eine rauhe Arbeit. Hielten nur Männer mit starken Nerven aus. Vor allem, als sich immer mehr Leute darum kümmerten, dass das Verbot des Sklavenhandels auch eingehalten wurde. Wenn Gefahr bestand, dass das Schiff aufgebracht wurde, ließen die Kapitäne die ganze Ladung über Bord kippen.«
»Von lebenden Menschen?«, fragte Hansen ungläubig.
»Was denn sonst? Es stand für sie ja viel auf dem Spiel. Vor allem, wenn der Waffenhandel, der Sklavenhandel und die Rumdestillation in der Hand eines einzigen Mannes lagen. Frederik Nielsen von Nielsens Rum-Kontor in Flensburg war einer von diesen Glücklichen. Von dem haben Sie vielleicht schon mal gehört. Ich führe seinen Rum aber nicht. Schmeckt mir nicht.«
Hansen erstarrte.
Der Wirt merkte es nicht. Nachdenklich rieb er mit dem Daumenballen an einem Flecken auf der Tischplatte herum. »Ist vielleicht ganz gut, dass es vorbei ist. Die Schwarzen sind ja irgendwie auch Menschen.«
»Ich denke auch«, stimmte Hansen mit einem tiefen Seufzer zu. »Seit wann genau ist es denn vorbei?«
Der Wirt wiegte den Kopf. »Ganz genau weiß ich es nicht. Es war ja bei den einzelnen Nationen auch unterschiedlich. Muss so zwischen achtzehnzehn und -zwanzig gewesen sein. Danach machten jedenfalls alle europäischen Staaten Schluss mit dem Sklavenhandel. Offiziell.«
»Aber das ist siebzig Jahre her«, wandte Hansen ungläubig ein und betrachtete sein Gegenüber genau. Älter als sechzig konnte dieser doch gar nicht sein. Und was meinte er mit offiziell?
Der Wirt ließ sich die Musterung grinsend gefallen. Anscheinend wusste er genau, was Hansen dachte. »Viele Jahre segelten immer noch einzelne waghalsige Kapitäne auf der Route, und es wurde von der jeweiligen Obrigkeit stillschweigend geduldet. Die wussten alle, dass der Sklavenhandel Reichtum ins Heimatland brachte. Ich hatte Glück, dass ich auf einem solchen Schiff anmustern konnte.«
»Als Überbordschmeißer von Menschen?« Hansen konnte sich angesichts der unter den hochgekrempelten Ärmeln herausquellenden schenkeldicken tätowierten Oberarme des Wirtes vorstellen, wie nützlich er an Bord eines Sklavenschiffes gewesen war.
Aber der Mann ließ sich nicht provozieren. »Als Jungmann. Erst als sie merkten, dass ihnen mein Essen besser schmeckte als der Fraß, den die schwarzen Köche zusammenrührten, blieb ich ganz in der Kombüse. Dreißig Jahre. Mir war es recht.«
Das wenigstens sprach für den Wirt.
»Übrigens É«, fügte er hinzu, »wer weiß, ob der Sklavenhandel wirklich aufgehört hat. Die Schiffe, die unter der preußischen Obrigkeit den Pure-Rum aus Jamaika nach Flensburg holen, fahren ja ganz legal É Und so ein kleiner Umweg über Guinea nach Brasilien É Ich habe zwar gehört, dass der Sklavenhandel vor kurzem auch in Brasilien verboten wurde. Aber was will das schon heißen?«
Hansen starrte ihn mit offenem Mund an.

Kapitel 18
Sönke Hansen brauchte einen ganzen Tag, um seine Informationen zu ordnen und aufzuschreiben, und war in dieser Zeit für niemanden zu sprechen.
Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder einen Schritt weitergekommen zu sein. Es gab zwei voneinander zunächst unabhängige Ereignisse.
Zum einen hatte vor kurzem ein unbeladenes Schiff Nielsens Rum-Kontor mit unbekanntem Ziel verlassen, was vom Prokurator rundweg und seltsamerweise ohne erkennbaren Anlass geleugnet worden war. Aus der Vergangenheit war bekannt und wurde auch mit einem gewissen Stolz in den Räumlichkeiten der Firma demonstriert, dass der Gründer und sein Sohn den lukrativen Dreieckshandel mit Sklaven betrieben hatten, der heute verboten war.
Das zweite Ereignis hatte sich in der Nordsee abgespielt, wo ein auffällig rankes, gesetzeswidrig unbeleuchtetes Schiff an der Westküste auf den Sänden festgekommen war, was zufällig von einem Fischer bemerkt worden war.
Wahrscheinlich hatte sich auf diesem Schiff der Mann befunden, der ein Gewehrgeschoss und einen Sklavenhalsring in seinen Besitz gebracht hatte und deshalb in eine tätliche Auseinandersetzung mit der Schiffsbesatzung verwickelt worden war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.06.2005