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Jensen und Hansen wurden in die Gespräche einbezogen und schnackten sich fest.
Schließlich stellte Hansen fest, dass es auf Mitternacht zuging, und gähnte demonstrativ.
»Ich muss auch nach Hause«, bemerkte Jensen und stand auf.
Hansen begleitete ihn nach draußen, um sich den Tabakrauch, der schwer zwischen den Deckenbalken gehangen hatte, aus den Kleidern zu klopfen. Nachdem sie sich in bierseliger Freundschaft getrennt hatten, entschloss sich Hansen, noch ein wenig am Wasser entlangzubummeln, um dem leisen Schwatzen der Wellen zuzuhören. Als er plötzlich von einem Entenjäger aufgeschreckt wurde, kehrte er in die Kleine Auster zurück und fiel schließlich schwer in sein Bett.
Die Bugwelle des Schnelldampfers fraß sich durch die Fahrrinne, die zu Andresens neuer Schiffbrücke führte, und klatschte schwarzen Schlick an die Kaimauer. Möwen flogen kreischend auf und setzten sich nach wenigen Metern wieder. Hansen beobachtete das Meer, bis es sich wieder beruhigt hatte. Bandick hatte Recht gehabt und wahrscheinlich auch der Schiffer, der die Versandung im Fischerhafen auf die schnellen Dampfer zurückführte.
Solche Belastungen konnten die Uferbefestigungen auf Dauer nicht aushalten. Der neuartige Schiffsverkehr würde im Wasserbauamt ein Umdenken erfordern. Hansen nahm sich vor, Petersen darauf aufmerksam zu machen, während er auf der Landungsbrücke entlangwanderte. Nach einigem Suchen fand er einen Amrumer, der sich bereit erklärte, ihn nach Nordmarsch zu segeln.
Während der Mann das Boot klarmachte, holte Hansen sich vom Pavillon die Amrumer Morgenzeitung und betrachtete dann müßig die Traube von abreisenden Badegästen, die sich inzwischen auf der Brücke eingefunden hatten. Der luxuriöse Dampfer der Nordsee-Linie würde in Kürze nach Hamburg ablegen, wie das inzwischen neben der Gangway aufgestellte Schild bekannt gab.
Eiliges Klappern veranlasste Hansen sich umzudrehen. Der Holzschuhmann kam, wieder mit seinem Seesack auf der Schulter. Aus einem Instinkt heraus sprang Hansen in den Ewer und setzte sich so, dass das flatternde Großsegel ihn verbarg. Aber der Kerl kletterte nach oben, ohne nach rechts oder links zu schauen, ließ den Matrosen seinen Fahrschein einreißen und verschwand auf kürzestem Wege im Inneren des Schiffes. Bei der Abfahrt des Dampfers kurz darauf war er nicht unter den zahlreichen winkenden Passagieren an der Reling.
Ein Sommergast war er jedenfalls nicht. Und für einen Taschendieb war der Aufenthalt wohl doch zu kurz gewesen.
Auf Hilligenlei bekam Hansen sein altes Zimmer, was ihm ein Gefühl von Rückkehr nach Hause vermittelte. Sein Tag verging damit, alte Freundschaften aufzufrischen.
Erst am Abend fand er Gelegenheit, die Amrumer Zeitung aufzuschlagen. Schon bei der ersten Zeile stockte ihm der Atem. Unerklärlicher Todesfall in Amrum Hafen, hieß es da.
Kurz nach Mitternacht wurde einer der Leuchtturmwärter von Amrum, Boy Jensen, tot aufgefunden, erschossen auf seinem offensichtlich einsamen Heimweg nach Nebel. War es ein Unfall oder Raubmord? Der Amrumer Polizeiwachtmeister sah sich nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten, und hat im Übrigen die Untersuchung des Falles an die Policey-Station auf Föhr weitergegeben.
Es wäre jedenfalls ein schweres Unglück für die Insel, wenn die großstädtische Verbrecherbrut jetzt auch hier schon Gewalttaten ausübte, angelockt von begüterten Gästen, deren Zahl mit jedem Sommermonat in erfreulicher Weise zunimmt.
Ein schlichter, strebsamer junger Mann wurde erschossen, nachdem er vor den Augen vieler einige Stunden mit Hansen zusammen gewesen war. Sie waren beide gleich groß und beide blond. Ein furchtbarer Verdacht kam Hansen.
In der Nacht schlief er unruhig. Gegen Morgen erwachte er in panischer Angst, weil ihm im Traum Gerdas starres, bleiches Gesicht durch ein Bullauge entgegengeblickt hatte. Die Strömung hatte ihre Haare erfasst und bewegt. Aber es waren Jorkes Locken gewesen.
Hansen sah sich verpflichtet, der Wyker Polizei seinen Verdacht mitzuteilen. Da jedoch der Ewer erst am nächsten Tag segeln würde, beschloss er, Nummen Bandick aufzusuchen.
Nummen freute sich, als er hörte, dass sein Wissen über die Gewässer gefragt war. Während er in aller Ruhe die Pfeife mit dem geschenkten Tabak stopfte, wartete Hansen geduldig.
»Dass der Hut an der Stelle, die du beschreibst, wo also das Rüter-Gat in die Norder-Aue übergeht, quer getrieben ist, ist überhaupt nicht erstaunlich«, bemerkte Nummen schließlich. »In Höhe des Rüter-Gats setzt der Flutstrom nämlich quer, weil er ja auch in die Süder-Aue geht.«
»Ach so«, sagte Hansen atemlos. »Also war es doch nicht nur der Wind. Und ein Gegenstand, der an der Seesand-Bake ins Wasser fällt?«
»Landet zumeist auf Nordmarsch.«
»Auch eine Leiche?«
»Die auch«, bestätigte Nummen. »Aber was auf Nordmarsch landet, kann natürlich auch vom Land-Tief, vom Schmal-Tief, vom Rüter-Gat oder von weit draußen hereingetrieben sein. Kommt auf den Strom am betreffenden Tag an.«
»Ach, du liebe Zeit«, stöhnte Hansen unzufrieden. Gerade eben noch hatte er geglaubt, alles sei geklärt.
»Weiß man sonst nichts über den Toten?«
»Sonst nichts. Er hatte etwas Sand in seiner Tasche.«
Nummen ließ die Pfeife auf die Knie sinken. »Welche Farbe hatte der Sand?«
Hansen schloss die Augen und versuchte sich darauf zu besinnen, was der Polizist gesagt hatte. Er hatte nicht sonderlich darauf geachtet. »Grau, glaube ich. Ja, er sagte, grauer Sand.«
»Weiter draußen ist der Sand braun. Dein Toter muss ganz in der Nähe der Seesand-Bake im Wasser gelandet sein.«
Sönke Hansen sprang auf und schüttelte dem alten Mann dankbar beide Hände zugleich.
Am Tag darauf setzte der Wind böig aus Südwest, und Hansen musste froh sein, dass der Schiffer überhaupt nach Wyk fuhr. Die kurzen, harten Wellen mit Schaumkronen machten das Segeln ungemütlich. Keiner der Passagiere war gesprächig. Hansen war dankbar, als sie nach ermüdendem Aufkreuzen vor dem Hafen endlich anlegten.
An diesem Tag hatte Robert Schliemann Dienst. Ungläubig sah er Hansen entgegen. »Kaum gibt es einen polizeilich gemeldeten Toten, tauchen Sie schon wieder auf«, bemerkte er ruppig. »Was wollen Sie?«
Eigentlich war Hansen bei seinem ersten Satz schon die Lust vergangen, seine Aussage zu machen. »Darf ich mich setzen?«, fragte er widerwillig.
»Bitte.«
»Ich habe am Abend vor seinem Tod noch mit Boy Jensen zusammengesessen«, berichtete Hansen.
»Sie?« Schliemann betrachtete ihn, als hätte er ihn endgültig bei einer faustdicken Lüge ertappt. Er schüttelte den Kopf.
»Doch«, bekräftigte Hansen. »Es könnte sogar sein, dass sein Tod etwas mit mir zu tun hat.«
»Natürlich«, stimmte Schliemann aggressiv zu, der jetzt sichtlich jeden Funken von dienstlichem Interesse verloren hatte. »Sprechen Sie nur weiter.«
»Auf der Hinfahrt nach Amrum wurde auf mich ein Anschlag verübt, und es könnte sein, dass der Täter derselbe ist.«
»Selbstverständlich«, pflichtete ihm Schliemann höhnisch bei und zückte seinen Bleistift und einen Papierbogen. »Die Namen der Zeugen, bitte.«
Hansen hob hilflos die Handflächen.
»Das dachte ich mir«, schnappte Schliemann zu und schob das Schreibmaterial demonstrativ weit von sich. Er beugte sich über seinen Schreibtisch zu Hansen. »Wissen Sie, was ich glaube? Sie sind süchtig nach Aufmerksamkeit! Irgendwie haben Sie es beim ersten Fall so gedeichselt, dass Tete Friedrichsen Sie ins Spiel brachte. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich Clement auch nur ein Sterbenswörtchen mitteile! Mit Ihrer Person mache ich mich ja selbst unglaubwürdig!«
Hansen schaffte es, ruhig zu bleiben.
»Das sind kommunistische Revolutionäre, die im feinen Badeort umgehen und Krawall machen! Und manchmal kommt es eben zu Tätlichkeiten. Die Stimmung schwappt aus Dänemark zu uns herüber. Ich sage es Ihnen nur, Hansen, damit Sie aufhören, meine Zeit zu verschwenden.«
»Und das glauben Sie?«, fragte Hansen entgeistert.
»Ich, ja. Ich weiß doch, was die Leute über Herrn Andresen denken! Die Kugel hat diesen Jensen versehentlich getroffen!«
»Und was tun Sie?«
Schliemann zuckte die Achseln. »Nichts. Meine Vorgesetzten auf dem Festland glauben nämlich nicht an einen Racheakt, sondern an eine verirrte Kugel eines Schützen- oder Kriegervereins. Und wir werden natürlich nicht gegen ehrenwerte Bürger mit deutschnationaler Gesinnung vorgehen.«
»Natürlich nicht«, pflichtete Hansen ihm bei und bemühte sich angestrengt darum, seine Verachtung im Zaum zu halten.
»Aber wie auch immer. Zwei gewaltsam zu Tode Gekommene in der Nähe des von internationalem Publikum besuchten Badeortes Wittdün: Das ist Politik, und da stecken wir unsere Nasen nicht rein!«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.06.2005