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Leitartikel
Es ist wieder Phrasenzeit

Reden, Reden, nichts als Reden?


Von Rolf Dressler
Wahlkampfzeit ist Phrasenzeit ist Polemikzeit. Mal comic-verdächtig, mal dreist-dümmlich-rustikal, zu oft aber nur schlicht und einfach hintertreppenhaft peinlich.
Dennoch werden die Akteure und Akteurinnen mit uns, dem Publikum, wohl auch in dem Wahlkampfgetümmel kein Einsehen haben, das Deutschland aller Vor-aussicht nach in den kommenden Wochen heimsuchen wird.
Zum Aufgalopp schwingt sich ein besonders Geübter schon gleich mal zum Personal-Chefkritiker der Konkurrenz auf. SPD-Chef Franz Müntefering erklärt Angela Merkel rundheraus für angeblich gänzlich »ungeeignet«, die Nachfolge Gerhard Schröders anzutreten. Sie sei allenfalls tauglich als »zweite Figur«. Für das Leiten und Lenken tauge sie nicht, scharfrichterte Müntefering in Schröders Basta-Ton.
Das zeigt, wie gut der Mann, den die Seinen »Münte« rufen, beim Austeilen und Auskeilen schon in der Wahlkampf-Warmlaufphase drauf ist. Denn im selben Atemzug - in einer flammenden Rede beim Landesparteitag in Bayern - geißelte der heutige den früheren SPD-Chef Oskar Lafontaine nicht nur als »widerlich«, sondern gar als leibhaftigen »Idioten«.
Weitere Steigerungen scheinen eigentlich unvorstellbar. Doch liegen sie im Bereich des Möglichen, wenn nicht sogar des Wahrscheinlichen: Es naht die schöne Wahlkampfzeit...! Auch mit anderem Floskel-Salat sollten die Wahlkampfredner das Wählervolk eigentlich verschonen. Sie tun es aber garantiert nicht, weil sie viel zu sehr an Unverbindlich-Nichtssagendem wie etwa den folgenden Versatzstücken hängen: »Wir müssen uns endlich den Realitäten in Deutschland stellen.« Und: »Die globale Welt verändert sich rasend schnell, deshalb sind rasche strukturelle Antworten auf die Fragen von Gegenwart und Zukunft notwendig.«
Unverändert beliebt bleibt die Anrede. Viele haben dieses Redefüllmaterial so sehr verinnerlicht, dass sie es geradezu inflationär einsetzen bei ihren Ansprachen an die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, Teilnehmer und Teilnehmerinnen, Parteifreunde und Parteifreundinnen, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Genossinnen und Genossen, Kandidatinnen und Kandidaten.
Apropos: Sollte Angela Merkel im September tatsächlich den Sozialdemokraten Gerhard Schröder als Regierungschef(in) ablösen, wird das Kanzleramt dann protokollarisch korrekt Bundeskanzlerinamt heißen müssen?
Die Sprachkulturpfleger vom Institut für deutsche Sprache ließen verlauten, es sei »in jedem Falle sinnvoll, zwischen Sprachverstehen und Redeverstehen zu unterscheiden«. Allerdings war das nicht auf Wahlkampfreden gemünzt, sondern auf »das Verhältnis des Verstehens zur sprachlichen Formulierung, sprich auf die komplementären Prinzipien der relativen Äquivalenz paraphrastischer Formulierungen und der Semantisierbarkeit jedes, auch des kleinsten Formulierungsunter- schiedes...« - wenn Sie verstehen.

Artikel vom 25.06.2005