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Leitartikel
Nach dem Scherbenhaufen

Europa der Vaterländer neu denken


Von Jürgen Liminski
Vor knapp 60 Jahren hielt Winston Churchill in Zürich seine berühmte Europa-Rede, die als Initialzündung für den ein paar Jahre später einsetzenden Integrationsprozess gilt, der schließlich zur EU von heute führte. Er sagte: »Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa aufbauen«. Und als ersten Schritt zur Schaffung einer »europäischen Familie« sah er die Vereinigung von Frankreich und Deutschland. Es könne, so Churchill »keine Wiedergeburt Europas geben ohne ein geistig großes Frankreich noch ohne ein geistig großes Deutschland«.
Das stimmt damals wie heute. Aber was ist geblieben von dem großen Design? Offenbar ist das Europa der EU-Regierungschefs zu einem Club der Krämerseelen verkommen, zu dem auch die Nachfolger Churchills gehören. Alle halten ängstlich den Geldbeutel fest, fast allen ist die kleine Münze mehr wert als die große Idee. Und natürlich sind die anderen Schuld.
Wir sind in der Stunde Null und das ist auch die Stunde der Schuldzuweisungen. Vielleicht sollte man die Denkpause auch mal auf das Sprechen ausdehnen.
Aber die Idee ist nicht tot. Sie ist nur narkotisiert von den Technokraten wie Günter Verheugen, die jetzt wendehälsig mehr Zurückhaltung bei der Erweiterung anmahnen. Dabei war gerade er es, der die Öffnung hin zu den Türken betrieb und das ist es, was der Bevölkerung zu Recht Angst macht. Die Türkei ist kein europäisches Land und wer ihren Beitritt wünscht, der beschwört nationalistische Reflexe herauf.
Auch das Verhalten der Regierungschefs ist von diesen Reflexen bestimmt, die seit dem Ende der Ost-West-Lähmung wieder lebendig werden. Vor allem das britische Vorgehen erinnert stark an die Gleichgewichtspolitik Londons aus dem 19. Jahrhundert, als man mal Preußen, mal Frankreich, mal Österreich als Festlandsdegen gebrauchte, um die anderen gefügig zu machen.
Nicht der reflexhafte Patriotismus, die Besinnung auf die eigenen Wurzeln sind eine Gefahr für die europäische Idee, sondern der Nationalismus, der egoistisch ausgrenzt und ängstlich am Besitzstand festhält.
Sicher ist eins: Das Konsensmodell ist am Ende. Es ist mit 25 Staaten nicht zu machen. Das Europa der Vaterländer, das Charles de Gaulle schon voraussah, greift wieder Platz. Es wird eine Zukunft haben, wenn die Völker und vor allem die Regierungen sich auch auf das spezifisch Europäische besinnen. Das ist der Rechtsstaat, die antike Philosophie und das Christentum.
Das ist die geistige Größe, von der auch Churchill sprach. Ohne Besinnung auf dieses zukunftsfähige Erbe wird es bei Schuldzuweisungen bleiben und das ist eine andere, eine moderne Form der Ausgrenzung.
Das Ende des bisherigen Europa ist auch ein Ende seines Personals. Mit Schröder, Chirac und Blair ist das Europa der Vaterländer nicht zu machen.

Artikel vom 21.06.2005