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Sartre: Bewundert,
aber auch umstritten

Philosoph und Autor wäre morgen 100 geworden

Von Sabine Glaubitz
Paris (dpa). Das Grab ist schlicht: Nur eine weiße Steinplatte erinnert daran, dass hier einer der bedeutendsten Schriftsteller und Philosophen liegt. Jean-Paul Sartre, der morgen 100 Jahre alt geworden wäre, verabscheute Pomp, Protz und offizielle Ehrungen.
Eine besondere Beziehung: Jean-Paul Sartre mit Simone de Beauvoir. Foto: dpa
Im Jahr 1964 lehnte er deshalb auch den Nobelpreis für Literatur ab. So steht auf dem Pariser Grabstein nur: »Jean-Paul Sartre (1905 - 1980). Sartres Namen folgt ein weiterer: Simone de Beauvoir (1908-1986). Die beiden waren wohl das legendärste Schriftstellerpaar des 20. Jahrhunderts.
Sartre und Simone de Beauvoir standen im Mittelpunkt des Existenzialismus', einer Philosophie, die vor allem in den 50er und 60er Jahre zur Mode wurde. Diese bedeutende philosophische Strömung des 20. Jahrhunderts geht davon aus, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist und sich den Sinn seiner Existenz durch Engagement selber geben muss. Diese Forderung, die zunächst ohne inhaltliche Bestimmung war, orientierte sich bei Sartre immer stärker an kommunistischen Positionen. Sartre wurde zum Inbegriff des engagierten Intellektuellen und Schriftsteller. Er wandte sich gegen bürgerliche Normen, gegen den Algerienkrieg, gegen Kolonialismus, er setzte sich ein für den Weltfrieden und für das Asyl vietnamesischer Flüchtlinge.
Doch in seinem Kampf um die Freiheit des Einzelnen unterlag Sartre auch manchen Verirrungen und Widersprüchen. So verteidigte er Stalin, Mao, Castro und Ché Guevara, Chruschtschow, Tito, Pol Pot und die terroristische Rote Armee Fraktion. Als Sartre nach seiner Reise 1954 in die Sowjetunion behauptete, die Freiheit der Kritik sei in der UdSSR total, wendeten sich viele Anhänger von ihm ab.
Der 1938 veröffentlichte Roman »Der Ekel« ist der erste philosophische Roman, der Sartre als Existenzialist ausweist. Darin schildert er, wie die Abscheu vor der Absurdität des Daseins zur Freiheit führt. Den theoretischen Überbau dazu lieferte er in dem ontologisch orientierten Werk »Das Sein und das Nichts« von 1943, in dessen Mittelpunkt die Schlüsselbegriffe Authentizität, Endlichkeit, Hingabe und Unaufrichtigkeit stehen.
Der Einfluss des Existenzialismus währte nur knapp zwei Jahrzehnte. Er war vor allem in den 50er und 60er Jahren spürbar und reichte bis in die äußerste Lebensgestaltung der Anhänger: Man zog sich vorzugsweise Schwarz an, hörte Jazz und kehrte in den noch heute berühmten Pariser Künstlercafés »Les Deux Magots« und »Café Flore« ein.
Simone de Beauvoir und Satre lebten jahrelang in Hotels. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten die beiden ihren Lebensstil. Statt eines Hotelzimmers mietete sich schließlich jeder eine Wohnung. Nachdem auf Sartres Appartement in der Rue Bonaparte im 6. Arrondissement im Jahr 1961 und 1962 wegen seines Kampfes für ein unabhängiges Algerien zwei Sprengstoffanschläge verübt wurden, zog er zunächst in ein kleines Studio im Montparnasse-Viertel, bevor er in ein modernes, schäbig wirkendes Gebäude wechselte. Seine neue Zwei-Zimmer-Wohnung lag im zehnten Stock, von wo aus er einen herrlichen Blick über die Dächer von Paris hatte - und auf seine letzte Ruhestätte, den Friedhof von Montparnasse.
Diese Wohnung, in der Sartre von 1973 bis zu seinem Tod lebte, war für ihn das Appartement, in dem er »nicht mehr arbeiten konnte«, denn er war zu dieser Zeit ein blinder, zahnloser und völlig erschöpfter Greis. Über diesen alten Mann mit erloschenen Augen schrieb Simone de Beauvoir, die von Sartre zeitlebens »mein Biber« genannt wurde: »Die Nahrung läuft aus seinem Mund, er geifert; Alkohol, Amphetamine und Tabak haben seine Gefäße zerstört.«
Noch auf dem Sterbebett galten die letzten Worte Sartres seiner Lebensgefährtin: »Ich liebe Sie sehr, mein kleiner Biber«. Nach der Beerdigung am 19. April, an der mehr als 50 000 Menschen teilnahmen, schrieb Simone de Beauvoir: »Sein Tod trennt uns. Mein Tod wird uns nicht vereinen. Das ist so; es ist schon schön, dass unsere beiden Leben so lange in Einklang miteinander waren.« Am 19. April, genau sechs Jahre später, folgte sie ihm ins Grab.

Artikel vom 20.06.2005