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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


In seinem Brief an die Christen in der Landschaft Galatien, in der heutigen Türkei gelegen, schreibt der Apostel Paulus: »Wenn ein Mensch von einem Fehl übereilt würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist« (Gal. 6, 1).Offensichtlich versteht sich das nicht von selbst.
Häufiger geschieht das Gegenteil: Da ist jemand auf die Nase gefallen, hat sich übernommen, verrannt, ist einer Versuchung erlegen. Es war sein Pech, sein Unglück oder auch seine eigene Schuld. Dafür bekommt er nun die bekannte Quittung: Auch ehemals vermeintlich gute Freunde werden rar und lassen sich nicht mehr blicken. Bekannte wechseln die Straßenseite, wenn eine Begegnung droht. Die Grüße der Hausbewohner fallen knapp und kühl aus, manche unterbleiben auch ganz.
Warum wird er denn jetzt gemieden, gerade auch von solchen, denen er keinen Schaden zugefügt hat und die nicht durch ihn selbst in Mißkredit geraten sind? Jemand der zu Fall gekommen ist, erinnert die anderen an ihre eigene Gefährdungen, Verstandesmäßig ist das den meisten zwar überhaupt nicht bewußt, oder sie wollen es einfach nicht wahrhaben. Trotzdem oder gerade deswegen bestimmt es so oft ihr Verhalten.
Es ist ähnlich wie bei Menschen, die sich außerstande sehen, einen Patienten im Krankenhaus zu besuchen oder an einer Beerdigung teilzunehmen. Kranksein und Vergänglichkeit sind in ihrem Lebenskonzept nämlich nicht vorgesehen, sondern nur Gesundheit, Vitalität und möglichst ewige Jugend. Alles was an die andere Seite der Wirklichkeit erinnert, muß verdrängt werden, solange das möglich ist. Das ist auch ein Lebensmodell, das auf einer Lebenslüge errichtet ist - so wie es eine Lebenslüge ist, sich einzubilden: Zu Fall kommen, einmal ganz unten zu sein, einer Versuchung zu erliegen oder gar mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, das könnte mir überhaupt nicht passieren, das ist bei mir völlig ausgeschlossen.
Genau an dieser Stelle setzt Paulus ein. Er empfiehlt aber gerade nicht die billige Nonchalance und fadenscheinige Toleranz des Ausspruchs: »Das kommt in den besten Familien vor.« Vielmehr fordert er eine sehr entschiedene Bescheidenheit, die in dem Fehltritt des anderen die eigenen Möglichkeiten erkennt und vor ihnen nicht die Augen verschließt und nicht wegläuft. Zum Wortfeld von Bescheidenheit gehört nämlich auch »Bescheid wissen«, und das hat auf diesem Gebiet mit Selbsterkenntnis zu tun.
»Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst« (Gal. 6, 3), schreibt der Apostel weiter. Bescheid zu wissen um die eigenen Gefährdungen, um die eigene Versuchlichkeit, Bescheid zu wissen, daß es Gnade war, wenn man ihnen nicht erlag, wenn einem Situationen erspart geblieben sind, in denen man sehr leicht hätte zu Fall kommen können, das ist ein Schlüssel zur Last des fremden Schicksals und des fremden Unterliegens.
Bescheid zu wissen über sich selbst kann den Zugang zu dem anderen eröffnen, Zugang auf gleicher Ebene und nicht von oben herab. Das hat Paulus wohl im Sinn mit der etwas altbackenen Wendung vom »Zurechthelfen mit sanftmütigem Geist«. Und wenn es gilt, die Last des anderen zu tragen, so muß mir, um das zu können, zuvor bewußt geworden sein, daß ich selbst Lasten zu tragen aufgebe.
Diese Bescheidenheit darf aber noch tiefer reichen. Denn die Last unserer eigenen Person ruht auf dem einen und einzigen Lastenträger, den die Bibel in ihrer symbolischen Sprache das Lamm Gottes nennt, welches der Welt Sünde trägt. Wir Menschen sind nur begrenzt belastbar. Das Lamm Gottes aber, Jesus Christus, ist unbegrenzt, ist unendlich belastbar. Wir können es vor allem mit uns selbst belasten.

Artikel vom 18.06.2005