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Leitartikel
Zum EU-Gipfel

Europa
braucht eine
Inventur


Von Dirk Schröder
Europa ist angeschlagen. Das vorläufige Scheitern der Verfassung hat dieser wunderbaren Idee von einer starken wirtschaftlichen, politischen und friedensfördernden Union bereits einen schweren Knacks versetzt. Und der heute und morgen stattfindende Krisengipfel in Brüssel, auf dem um die Finanzen gerungen wird, gibt wenig Anlass zu der Hoffnung, dass die Staats- und Regierungschefs in der belgischen Hauptstadt das Vertrauen der europäischen Bürger zurückgewinnen werden.
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mahnt zu Besonnenheit, der derzeitige EU-Ratspräsident. Luxemburgs Ministerpräsident Jean Claude Juncker, bittet händeringend um Kompromissbereitschaft. Und Bundeskanzler Gerhard Schröder appelliert an alle Mitglieder, auf nationale Egoismen zu verzichten. Doch all dies wird wenig nutzen. Das Gipfeltreffen wird in den für die Zukunft der EU so wichtigen Finanzfragen nicht zu Potte kommen, in Brüssel wird die Union statt der notwendigen Einigkeit eine erschreckende Handlungsunfähigkeit demonstrieren. Und dies zu einer Zeit, in der sich die Europäischen Union einen weiteren Fehlschlag eigentlich nicht leisten könnte.
Natürlich ist der »Briten-Rabatt«, den die »Eiserne Lady« der EU vor mehr als 20 Jahren förmlich abgepresst hatte, nicht mehr zeitgemäß. Dies weiß auch Premier Tony Blair. Doch innenpolitisch sitzt ihm sein Schatzkanzler Gordon Brown im Nacken. Natürlich will er mit seinem Hinweis auf das Agrarbudget der EU, von dessen Subventionen vor allem Frankreich profitiert, in erster Linie ablenken.
Doch zu verstehen ist seine Haltung auch. Wenn Paris sich nicht bewegt, wird eben auch London nicht nachgeben. So wird der Gipfel scheitern. Der durch das verlorene Referendum angeschlagene französische Präsident Jacques Chirac wird sich hüten, sich obendrein mit seinen Bauern anzulegen.
Chirac hat sich zusammen mit dem Bundeskanzler immer als Motor der europäischen Idee produziert. Doch gerade Chirac ist jetzt auch das beste Beispiel dafür, wie nationale Egoismen diesen Motor immer wieder zum Stottern bringen.
Das drohende Debakel in Brüssel wird das gemeinsame Haus Europa kräftig zum Wackeln und damit viele Bürger zum Nachdenken bringen, ob dies wirklich der Wohnraum ist, den man sich schon immer gewünscht hat.
Die verfahrene Verfassungsfrage und nun der Finanzstreit, aber auch viele Fehler der Vergangenheit haben dazu beigetragen. Da hat man dem bürokratischen Moloch Brüssel nicht Einhalt geboten und so die Bürger verschreckt. Da hat man die Erweiterung schlecht verkauft, die nicht nur ein Kostenfaktor ist, sondern vor allem auch Chancen bietet.
Europa ist vom Kurs abgekommen, wer wollte dies bezweifeln? Doch niemand kann sich eine Umkehr wünschen. Notwendig ist jetzt eine gründliche europäische Inventur. Da hat Bundespräsident Horst Köhler völlig recht.

Artikel vom 16.06.2005