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Den Embryonenschutz lockern

Schröder will Stammzellenforschung erleichtern - Protest von Union und Grünen

Göttingen/Berlin (dpa). Drei Jahre nach Inkrafttreten des Stammzellengesetzes hat sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in bislang deutlichster Form für Lockerungen beim Embryonenschutz ausgesprochen.

Die in Deutschland geltenden Einschränkungen bei der Stammzellen-Forschung seien auf Dauer nicht haltbar, sagte er gestern bei der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen. Bei Politikern von Union und Grünen sowie Ärzteverbänden stieß Schröders Vorstoß auf zum Teil scharfe Ablehnung.
»Ich bin davon überzeugt, dass wir uns, besonders im Lichte neuer Erkenntnisse, der Tendenz zu einer Liberalisierung der Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht entziehen können«, betonte der Kanzler. Er erklärte sich bereit, auch Entscheidungen dazu herbeizuführen. Die Rechtsunsicherheit, der sich deutsche Forscher ausgesetzt sähen, müsse beseitigt werden. Nach Schröders Worten sind rasche Antworten nötig, damit Deutschland in der Bio- und Gentechnologie international nicht den Anschluss verpasst. »Damit wären wir von der Mitsprache über die Nutzung und der Kontrolle der Verfahren ausgeschlossen.«
Er nehme die Ängste und ethischen Bedenken gegen die neuen Entwicklungen ernst, sagte der Kanzler. Es sei aber »der falsche Weg«, sich wegen der noch nicht völlig überschaubaren Risiken den Chancen des wissenschaftlichen Fortschritts zu verschließen. Das große medizinische Potenzial der Forschung mit Stammzellen biete die Möglichkeit, Leiden zu lindern und bislang unheilbare Krankheiten zu bekämpfen. »Wir müssen also der Chance eine Chance geben.«
Wer dazu Nein sage, müsse die Folgen bedenken: »Wie verhalten wir uns, wenn irgendwann einmal die erste auf der Grundlage der Forschung an embryonalen Stammzellen entwickelte Therapie gegen bisher unbekannte Krankheiten in Europa und anderswo auf den Markt kommt? Wollen wir ernsthaft den Import eines solchen Medikaments verbieten?«, fragte er.
In scharfer Form kritisierte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, den Vorstoß des Kanzlers. Die »Vernutzung von Embryos zur Ausschlachtung für embryonale Stammzellen« sei »forschungspolitisch verbrämter Kannibalismus«, sagte Beck. »Die wirtschaftliche Ausbeutung menschlichen Lebens in Deutschland ist sittenwidrig und muss es auch bleiben«, sagte der Vorsitzende der Krankenhausärzte-Vereinigung Marburger Bund, Frank Ulrich Montgomery.
Der Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquete-Kommission »Ethik und Recht der modernen Medizin«, Thomas Rachel, sagte, die ethische Bewertung der Embryonal-Forschung dürfe »nicht von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolgen abhängig gemacht werden«. Unions-Expertin Maria Böhmer (CDU) meinte, für Schröders Position gebe es im Parlament keine Mehrheit. Die FDP-Forschungspolitikerin Ulrike Flach rief den Kanzler hingegen auf, den Vorstoß ihrer Fraktion für die weitgehende Freigabe des Stammzellenimports zu unterstützen.
Embryonale Stammzellen können auf zwei Wegen gewonnen werden: Aus geklonten Embryonen oder aus Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung übrig geblieben sind. Beides ist in Deutschland verboten. In begründeten Ausnahmefällen können Forscher jedoch im Ausland gewonnene embryonale Stammzellen importieren und damit arbeiten. Das Verfahren wird im deutschen Stammzellengesetz geregelt, das im Juli 2002 nach dreijähriger kontroverser Debatte in Kraft trat.

Artikel vom 15.06.2005