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Trotz Kanzler-Auftritts mehr
offene Fragen als Antworten

Bislang ist das Konzept von Schröder und Müntefering aufgegangen

Von Karl-Heinz Rath
Berlin (dpa). Auch mit dem unerwarteten Presseauftritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestern nach seinem Besuch beim Bundespräsidenten bleiben viele Fragen offen.

In knappen Worten machte der Kanzler klar: Es bleibt bei der Vertrauensfrage am 1. Juli im Bundestag. Und diese Abstimmung werde er nicht mit einer politischen Sachfrage verbinden - etwa der Unternehmenssteuerreform, was Spielraum für politische Schuldzuweisungen an Grüne oder die SPD-Linke gelassen hätte.
Also auch kein vorzeitiger Rücktritt, kein Wechselspiel zu einem SPD-Übergangskanzler Franz Müntefering und auch kein plötzliches Kommando zurück - wie seit Tagen in Berlin kursierende Gerüchte und Spekulationen alle glauben machen wollen.
Sichtlich genervt reagieren damit Kanzler wie SPD-Chef Müntefering auch auf die heftigen Attacken namhafter SPD-Funktionäre auf den Bundespräsidenten. Müntefering, der sich durch die Angriffe zu einem völlig ungewöhnlichen, öffentlichen Machtwort an die Partei via Fernsehen gezwungen sah, räumt ein, dass darunter auch seine Autorität als SPD-Vorsitzender leide. Und sorgenvoll fragt sich seit Tagen mancher in der SPD-Spitze: Wie lange macht Schröder das eigentlich noch mit, wann wirft er die Brocken hin?
»Ich habe einen Amtseid geschworen«, versucht Schröder die Zweifel zu zerstreuen und macht zugleich als Mahnung an die Adresse der eigenen Partei deutlich, dass er nur für seine Reformpolitik steht und kämpfen will. Müntefering versichert, dass die SPD im Wahlkampf »voll auf Schröder als Nummer eins« setzt. »Unsere Spitze ist der Bundeskanzler.«
Der unerwartete Neuwahl-Vorstoß nach dem SPD-Wahldebakel in NRW hat die Partei mehr überrollt, als anfangs sichtbar wurde. Schröder sprach von einer »politischen Ausnahmesituation«, die nicht »zu unangemessenen Reaktionen« führen dürfe. Doch die Zeit bis zum 1. Juli, bis zur endgültigen Klarheit über die Vertrauensfrage, ist noch lang und bietet viel Spielraum für weitere Spekulationen. Ein Vorziehen der Parlamentsabstimmung aber hätte nach dem Grundgesetz auch einen früheren Wahltermin erzwungen. Doch keine Fraktion im Bundestag möchte die Bundesbürger gerne zur Ferienzeit an die Wahlurne holen.
Dennoch: Trotz der wilden Spekulationen und Turbulenzen der vergangenen Tage ist Münteferings und Schröders Konzept bisher im wesentlichen aufgegangen: Der von vielen befürchtete zerfleischende Richtungsstreit in der SPD wurde bislang vermieden - sieht man von einzelnen Stimmen ab. Bei den Vorbereitungen für das SPD-Wahlmanifest, das am 4. Juli verabschiedet werden soll, geht es um die »Weiterentwicklung« der Hartz-IV-Arbeitsmarktreform, um soziale Ergänzungen - nicht aber um die totale Abkehr des bisherigen Kurses.
Dennoch hätten wohl sich Müntefering wie Schröder von ihrer Partei mehr Aufbruchstimmung und Kampfbereitschaft erhofft - statt Selbstbeschäftigung und Debatten um Verfahrensfragen.

Artikel vom 10.06.2005