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Leitartikel
EU-Beitritt der Türkei

Alternative
gehört auf
den Tisch


Von Dirk Schröder
Europa steckt in der Krise - wer wollte dies bezweifeln? Doch auch die Wähler in Frankreich und den Niederlanden, die zu der Verfassung nein gesagt haben, wollten nicht das Überleben der Europäischen Union als politische Einheit aufs Spiel setzen.
Daher wäre es der größte Fehler, jetzt in Resignation zu verfallen. Auf der anderen Seite kann das Motto aber auch nicht lauten: Weiter so. Eines der lautesten Signale, die von den beiden Abstimmungen ausstrahlten, war doch die Furcht der Bürgerinnen und Bürger vor einer Überdehnung der Europäischen Union. Ob es dem Bundeskanzler nun passt oder nicht, auch die Türkei-Frage gehört noch einmal auf den Tisch.
Dabei geht es nicht darum, den Verhandlungstermin mit Ankara am 3. Oktober noch einmal zu verschieben oder gar abzublasen. Das ist beschlossen, und daran sollte auch niemand rütteln. Doch Ende Juni will die EU-Kommission die Verhandlungsziele mit der Türkei festsetzen. Bis jetzt soll die Vollmitgliedschaft - in wievielen Jahren auch immer - am Ende dieses Prozesses stehen. Eine privilegierte Partnerschaft, wie sie auch die mögliche zukünftige Bundeskanzlerin Angela Merkel favorisiert, ist dabei nicht vorgesehen.
Die Kommission wäre gut beraten, diese in ihre Überlegungen einzubeziehen. Die grüne Vorsitzende Claudia Roth irrt gewaltig, wenn sie glaubt, die Türkei-Frage habe nichts mit der Verfassungsdebatte zu tun. Da sollte sie doch einfach nur einmal ihre Landsleute fragen, von denen sich dreiviertel gegen einen türkischen EU-Beitritt ausgesprochen haben.
Aber auch in Ländern wie Spanien, das bisher zu den entschiedensten Befürwortern eines EU-Beitritts der Türkei gehörte, findet ein Umdenken statt. Der spanische Außenminister plädierte dafür, die Türkei-Frage noch einmal zu überdenken. Die europäischen Regierungen können es sich eben nicht länger erlauben, die berechtigten Sorgen ihrer Bürger zu ignorieren.
Allzu lange hat Brüssel über die Auswirkungen eines türkischen Beitritts nur unzureichend informiert. Obwohl doch ernstzunehmende wissenschaftliche Studien längst die Argumentation der Bundesregierung und anderer Beitritts-Befürworter zerpflückt haben. Die EU könne wohl kaum mit wirtschaftlichen Vorteilen rechnen, und die Behauptung, eine demokratische Türkei könnte Vorbild für andere islamische Staaten im Nahen und Mittleren Osten sein, sei nur »schwer nachzuvollziehen«.
Auch von den starken Worten des türkischen Ministerpräsidenten Tyyip Erdogan, der davor warnt, die Beziehungen der Türkei mit der EU stünden auf dem Spiel, sollte man sich nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Es liegt doch im ureigenen Interesse der Türkei, wenn der Reformprozess fortgesetzt wird. Ergebnisoffene Verhandlungen, an deren Ende auch eine privilegierte Partnerschaft stehen könnte, sind allemal besser, als wenn es nach zehn oder 15 Jahren heißt: Kriterien nicht erfüllt, draußen bleiben.

Artikel vom 09.06.2005