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Abschied von »Mrs. Robinson«

»Oscar«-Preisträgerin Anne Bancroft mit 73 Jahren in New York gestorben

Von Thomas Burmeister
New York (dpa). Sie war die Mutter von Winston Churchill in dem Film »Young Winston«. Als Israels Ministerpräsidentin Golda Meir erntete sie in »Golda« am Broadway Jubel. Ihren »Oscar« bekam sie für die Darstellung der Lehrerin einer blinden und taubstummen Frau. Doch vor allem wird sie als Sex-Sirene des jungen Dustin Hoffman in Erinnerung bleiben: Mit 73 Jahren ist Anne Bancroft in New York gestorben.

»Mrs. Robinson, Sie versuchen doch jetzt, mich zu verführen . . . nicht wahr?«, fragte Hoffman als schüchternes Bürgersöhnchen die Freundin seiner Eltern in »Die Reifeprüfung« (»The Graduate«). Das war 1967. Die ebenso bange wie freudig erregte Jünglingsfrage wurde in Windeseile zum beliebten Party-Zitat.
Hoffman konnte sich nach der Bewährungsprobe vor Rollenangeboten kaum retten. Anne Bancroft hat ihm das gegönnt, meist mit Schmunzeln. Aber sie war auch ungehalten, wenn Reporter auf der Verführungsgeschichte herumritten. »Es wundert mich, dass kaum jemand darüber hinausblicken mag«, sagte sie vor zwei Jahren. »Einiges in meinem Gesamtwerk ist sehr gut. Aber alle reden nur von Mrs. Robinson.«
Immer wieder versuchten Hollywood-Produzenten, Anne Bancroft auf den Typ »dunkelhaarige Unschuld« festzulegen. Quasi als Gegenstück zum Blondchenmodell Marilyn Monroe, neben der sie 1952 in dem Streifen »Versuchung auf 809« ihr Filmdebüt gab. Sie ließ sich das nicht gefallen und ging oft ans Theater zurück, wegen des wahren Publikumskontaktes.
Ihren wirklichen Namen fanden die Studiobosse »zu exotisch«. Als Anna Maria Louise Italiano wurde sie 1931 in der Bronx geboren. Ihr Vater war Modellschneider, die Mutter arbeitete als Telefonistin. Als die Produktionsfirma Twentieth Century Fox sie 1952 unter Vertrag nahm, aber eine Namensänderung verlangte, wählte sie aus einer Liste »Bancroft« aus.
»Mir war das ziemlich egal«, sagte sie später. »Ich wollte seit meinem neunten Lebensjahr nichts anderes als Schauspielerin werden.« Bevor Anne Bancroft 1962 mit »Licht im Dunkel« den »Oscar« (beste Hauptdarstellerin) bekam, hatte sie in derselben Rolle am Broadway Erfolge gefeiert.
Zweifellos gehört die Gestalt der Lehrerin Annie Sullivan zu den beeindruckendsten der amerikanischen Theater- und Filmgeschichte. Sie schafft es, in einer Kleinstadt einer jungen Frau, die mit 19 Monaten taubstumm und blind wurde, das Sprechen beizubringen. Kritiker deuteten den Film als Metapher auf die Unfähigkeit mancher Eltern, ihre eigenen Kinder zu akzeptieren.

Artikel vom 09.06.2005