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Zum »Verramschen« viel zu schade

Bauern erhalten für Brotgetreide weniger als 1950 -ÊKampagne »Lebensmittel mehr wert«

Von Bernhard Hertlein
Bielefeld/Münster (WB). Lebensmittelpreise sind geeignet, Aufstände anzuzetteln. In Frankreich beispielsweise brachten die hohen Brotpreise 1789 das Fass zum über- und die Revolution ans Laufen. Heute demonstrieren vor allem die Bauern -Ênicht wegen zu hoher, sondern wegen der zu niedrigen Erzeugerpreise.

Vor etwa einem Jahr trieben die Milchpreise die Bauern in Scharen auf die Straße und vor die Discounter. Damals lagen die Produktionspreise mit 30 Cent je Liter über den 27,7 Cent, die die Landwirte von der Milchwirtschaft erhielten. Und der Handel versuchte, den Milchpreis in den gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen noch weiter zu drücken. Heute beträgt er 28 Cent -Ênur zwei Cent mehr als Anfang der siebziger Jahre. 1950 betrug der Milchpreis nach Angaben der NRW-Landwirtschaftskammer umgerechnet 13, zehn Jahre später 18 Cent.
Noch dramatischer ist die Situation beim Brotweizen. Kostete der Doppelzentner 1950 noch 21 und 1975 gar 22 Euro, so brach der Preis bis 2004 auf zehn Euro ein. Ähnlich bei Futtergerste: 1950 erhielt der Bauer für den Doppelzentner 18, 1975 etwa 20 und 2004 nur noch neun Euro. Der Doppelzentner Kartoffeln erhöhte sich von fünf auf zwölf Euro, um dann bis 2004 auf sechs Euro zurückzugehen. Der Schweinepreis liegt mit 1,50 Euro heute ebenfalls unter den 1,70 Euro, die der Bauer 1950 umgerechnet je Kilogramm Schlachtgewicht erlöst hat.
Die Verbraucher profitieren davon -Êwenn auch nicht in jedem Fall in gleicher Weise. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kostete ein Kilogramm Kotelett vom Schwein 1950 umgerechnet 2,19 und 2002 etwa 7,06 Euro. Ein Kilogramm Mehl verteuerte sich von 29 auf 53, ein Kilogramm Zucker von 60 auf 98 Cent und zehn Eier von 1,12 auf 1,45 Euro. Import-Lebensmittel wie Schokolade (von 66 auf 59 Cent je 100 Gramm) und Bohnenkaffee (von 7,34 auf 3,76 Euro je Pfund) sind teilweise sogar billiger geworden. Zum Vergleich: Für einen Haarschnitt bezahlte der Mann 1950 0,43 und 2002 durchschnittlich 18,41 Euro. Und an der Tankstelle kletterte der Preis für zehn Liter Benzin von 2,86 auf 10,28 Euro.
Was die deutschen Bauern besonders trifft: Hier zu Lande bezahlen die Verbraucher für ihren Lebensmittel-Einkaufskorb nur etwa 80 Prozent von dem, was die Menschen in anderen EU-Ländern ausgeben. Das geht, so sagt der Deutsche Bauernverband (DBV), langfristig auf Kosten der Lebensmittelsicherheit. »Außerdem führen Dumpingpreise bei Lebensmitteln zum Verlust von Arbeitsplätzen«, mahnte erst wieder in der vergangenen Woche der westfälisch-lippische Bauernpräsident Franz-Josef Möllers. Die Landwirte starteten bereits vor geraumer Zeit die Kampagne »Lebensmittel sind mehr wert.« Zusätzlich fordern sie jetzt gemeinsam mit dem Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV) ein Verbot des »Verramschens« von Lebensmitteln. Bislang nämlich sind »gelegentliche« Verkäufe unter Einstandspreis möglich, wenn sie sich nicht über einen Zeitraum von mehr als drei Wochen erstrecken. Möllers: »Der Lebensmitteleinzelhandel unterläuft das Verbot daher konsequent mit kurzfristigeren Dumpingaktionen.« DBV und VZBV verlangen, jeden Verkauf unter Einstandspreis zu verbieten.
Der Preisdruck wirkt sich auch auf jene aus, die sich durch Überschwenken auf den biologischen Anbau dem Preisdruck eigentlich entziehen wollten. »In jüngster Zeit verstärkt sich auch der Druck auf Biobauern«, erklärt Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf (Spenge), Europa-Abgeordneter der Grünen und seit 1996 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (ABL). Besonders betroffen seien jene, die nicht direkt ab Hof oder auf dem Wochenmarkt verkauften: »Je anonymer der Lebensmittelverkauf vonstatten geht, desto größer der Preisdruck.« Auf einem Wochenmarkt spiele der Preis eine, aber nicht die wichtigste Rolle.
Graefe zu Baringdorf sieht jedoch die Schuld nicht nur bei den großen Einzelhandelsketten, sondern ebenso in vorgelagerten Betrieben wie zum Beispiel Molkereien und bei einem Teil der Landwirte selbst. Einem Aldi oder Lidl komme es schließlich nicht darauf an, wie günstig er einen Liter Milch bekomme. Ihm sei vor allem der Preisabstand zur Konkurrenz wichtig. In Wirklichkeit seien die Dumpingpreise vor allem Ausdruck des letztlich ruinösen Konkurrenzkampfes unter Molkereien.
Die Leidtragenden seien jene Landwirte, die nicht weiter rationalisieren und ihre Produktion industriealisieren könnten oder wollten, meint der Grünen-Politiker.

Folge 6 am Dienstag: Marktkauf-Chef: Die Zukunft liegt nicht nur in »Billig«

Artikel vom 04.06.2005