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Europa im Angesicht des Schreckens ratlos

Große Angst vor dem Ausstieg noch ausstehender Länder

Von Dieter Ebeling
Brüssel (dpa). Jean-Claude Juncker hält inne. Nun ist auch das bisher Undenkbare in den Bereich des Möglichen gerückt, ist es auch in Brüssel nicht mehr unaussprechlich.
EU-Ratspräsident, der Luxemburger Jean-Clude Juncker, ist ratlos.
Was passiert eigentlich, wenn weniger als 20 der 25 EU-Staaten die Verfassung ratifizieren? Dieser Fall ist nicht einmal in der viel zitierten »Erklärung Nr. 30« vorgesehen, der einen Sondergipfel vorschreibt, falls zwar mehr als 20 Länder ratifiziert haben, nicht aber alle.
Wenn also insgesamt sechs Staaten »Nein« sagen würden, dann sei die Ratifizierung doch gescheitert und die Verfassung wirklich tot, wird Juncker gefragt. Und der dienstälteste EU-Regierungschef, der unermüdliche und listenreiche Luxemburger Juncker, sagt nach einigem Nachdenken schließlich, ganz langsam: »Es ist richtig, dass aus Erklärung 30 die Rechnung hervorgeht, die Sie aufgestellt haben.«
Mit den beiden gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden hat sich die Krise der Europäischen Union dramatisch verschärft. Doch die Mächtigen der EU - außer Juncker auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Parlamentspräsident Josep Borrell sowie die meisten Regierungschefs, darunter auch Bundeskanzler Gehard Schröder - mögen sich mit dem »Nein« noch nicht abfinden. Der Ratifizierungsprozess müsse fortgesetzt werden, heißt es unisono. Juncker: »Alle 25 haben das Recht, sich zu entscheiden.«
Kommissionspräsident Barroso forderte nach dem niederländischen »Nee« die Staats- und Regierungschefs zur »Klarstellung« auf, dass diese »keine einseitigen Entscheidungen treffen«. Die große Angst der Funktionsträger ist, dass eine Regierung nun angesichts der beiden Referenden das Verfassungsprojekt für tot erklärt, um daheim einer Niederlage bei einer Volksabstimmung zu entgehen. In Polen und Großbritannien wird dieser nationale »Fluchtweg« bereits diskutiert. Käme es so, dann wäre die Verfassung wirklich tot. Tatsächlich aber wollen die Regierungen zunächst Zeit gewinnen: Erst Ende 2006 wollen sie entscheiden, ob man den Nein-Sagern neue Referenden vorschlägt.
Die Angst vor dem »Schneeballeffekt«, den die beiden Ablehnungen auf die als »schwierig« geltenden Referenden in Polen, Tschechien und Großbritannien haben könnten, geht um. Die Gefahr gilt als umso größer, je mehr sich den Eindruck verbreitet, die EU reagiere nicht auf die Signale aus Paris und Den Haag, sondern versuche die Verfassung an den Bürgern vorbei »durchzuziehen«.
So ist eingetreten, was vorhersehbar war: Im Angesicht des Schreckens beginnen Debatten über die EU-Erweiterung, über die Beitrittsverhandlungen, über den Euro und über den Schutz der nationalen Arbeitsmärkte. Fragen, die bereits entschieden worden sind und auch direkt wenig mit der EU-Verfassung zu tun haben - die aber die Bürger umtreiben und in den Verfassungsreferenden zum »Denkzettel-Nein« bewogen haben.
»Man liebt das bestehende Europa nicht und hat deswegen das Europa zurückgewiesen, das mit dem Verfassungsentwurf vorgeschlagen wird«, summiert Juncker ein großes EU-Paradox: »Ich möchte das Europa, das es gibt, verteidigen.« Die Erweiterung sei richtig und nötig, weil sie zur Stabilität beitrage: »Zwei Wochen Krieg kosten mehr als zehn Jahresbudgets der EU.«
Zunächst einmal hofft er darauf, beim EU-Gipfel in zwei Wochen, der zu einem einzigartigen Krisengipfel werden könnte, die bereits als aussichtslos abgeschriebene EU-Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013 doch noch durchpeitschen zu können. Dies solle ein Zeichen dafür werden, dass die Union handlungsfähig bleibe. Richtig populär dürfte das aber nicht sein: Der EU-Haushalt soll deutlich stärker als die nationalen Haushalte steigen. Und die Staatskassen der meisten Mitgliedsländer sind schon jetzt leer.

Artikel vom 03.06.2005