04.06.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Das Strafverfahren gehörte eingestellt


Zu dem Artikel »Das Strafgesetz nimmt auch Kranke ernst« schreibt ein Leser:
Brigitte D., so berichtet das WESTFALEN-BLATT, sei nicht nur in ihrer Intelligenz gemindert, sondern leide außerdem unter einer symptomatischen Epilepsie und damit seit dem Kindesalter unter Krampfanfällen. Obendrein attestierten Ärzte der Frau ein hirnorganisches Psychosyndrom. Brigitte D. sei Zeit ihres Lebens von Krankenhaus zu Krankenhaus weitergereicht worden. Nach einem längeren Aufenthalt in einer Berliner Anstalt lebe sie seit Jahren in Bethel im Haus Gaza.
Brigitte D. sei nunmehr vom Amtsgericht Bielefeld wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen, begangen in Bethel, zu fünf Monaten Bewährungsstrafe verurteilt worden; das Gericht habe die Staatsanwaltschaft damit noch um zwei Monate überboten. Der Richter habe sein Urteil mit "humanistischen Grundsätzen" begründet: "Das Gesetz nimmt auch Sie als Bürger und Mensch ernst!.
Sicher, das deutsche Strafgesetz kennt keinen "Freifahrtschein" für Kranke. Erst die Schuldunfähigkeit verbietet eine Bestrafung, aber nicht jeder Kranke, auch nicht jeder psychisch Kranke, ist per se schuldunfähig. Das Amtsgericht hielt hier, in Übereinstimmung mit dem Psychiater aus Bethel (!), Brigitte D. für eingeschränkt schuldfähig und deshalb ihre Bestrafung nicht nur für möglich, sondern für geboten.
Und dennoch: In unserer pluralistischen Gesellschaft hat sich das Verständnis vom Zweck der Strafe stets weiterentwickelt. Die Strafe verfolgt heute in erster Linie den Zweck, das Wertebewusstsein in der Bevölkerung durch eine gerechte und gleichmäßige Strafrechtspflege zu stabilisieren. Ist es mit diesem Zweck auch vereinbar, die psychisch kranke Rechtsbrecherin aus Bethel mit einer fünfmonatigen Bewährungsstrafe zu überziehen? Ich finde, das ist es nicht. Es klingt doch wie Hohn, wenn ein Gericht ausgerechnet in einem solchen Fall das Strafgesetz hochhält und darauf verweist, das Gesetz nehme auch den Kranken ernst. Das passt hier nicht. Die Bevölkerung, und darauf kommt es entscheidend an, wird mehr als nur akzeptieren, dass dem Kranken dort geholfen werden muss, wo er untergebracht ist. Strafrecht ist keine Medizin! Das Strafverfahren gehörte deshalb eingestellt!
DR. SVEN GROTENDIEKRechtsanwaltBielefeld

Artikel vom 04.06.2005