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Zwei Stunden später wurde Sönke Hansen zu seinem Chef gerufen. Cornelius Petersen drehte gedankenvoll einen Bleistift zwischen den Fingern. »Der Herr Baron hat es eilig«, brummte er. »Dabei haben wir hier im Amt wirklich genug zu tun. Wann fahren Sie?«
»Mit Ihrer Erlaubnis morgen É«
»Sie pfeifen eigentlich auf meine Erlaubnis, stimmt's, Herr Hansen?«
»Nein, auf Ihre nicht, Herr Petersen«, beteuerte Hansen ehrlich. »Nur, wenn es gar nicht anders ginge É«
»Genau das meine ich. Sie haben meinen Segen. Machen Sie es gut.«
»Ich hoffe.« Sönke Hansen verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung. Petersen war in Ordnung.
Als Hansen am späten Nachmittag nach Hause zurückkehrte, erwartete ihn seine Haushälterin, die sonst gegen Mittag sein Haus verließ. »Nanu?«, fragte er überrascht. »Etwas Besonderes vorgefallen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie unbestimmt. »Sie hatten Besuch von einem Herrn, oder vielmehr einem Kerl, der nach Ihnen fragte.«
»Was wollte er?«
»Das hat er nicht gesagt. Eine Nachricht hat er auch nicht hinterlassen.«
»Was bekümmert Sie dann so, Frau Godbersen?«
Sie knetete die Hände. »Ich will einem Menschen, den ich nicht kenne, nicht Unrecht tun. Aber der ist kein Umgang für Sie, Herr Hansen, entschuldigen Sie, wenn ich das so direkt sage!«
»Sagen Sie es nur direkt! Ich bin sicher, dass auch ich ihn nicht kenne. Alle, die ich kenne, haben keinen Grund, Ihnen ihren Namen zu verschweigen.«
»Wenn es so ist É«, sagte Frau Godbersen erleichtert. »Ich dachte, wegen der merkwürdigen Kleidung, mit der Sie zurückgekommen sind É Und weil Sie doch heute wieder in Holzpantinen zum Dienst gegangen sind. All das tut man nicht in Ihrer Position, entschuldigen Sie, wenn ich auch das so direkt sage. Und dann noch dieser Kerl É Aber jetzt bin ich einigermaßen beruhigt. Dann einen schönen Abend noch, Herr Bauinspektor.«
Am späten Vormittag bestieg Sönke Hansen den Salondampfer der Wittdüner Aktiengesellschaft. Seine Laune war heiter wie das Wetter, als er sein Gepäck verstaut hatte und wieder an Deck schlenderte, um das Ablegemanöver zu verfolgen. Zufrieden stellte er fest, dass die Schuhe, die er sich gerade gekauft hatte, nicht drückten.
Erstmals fuhr er im Rahmen seiner Ermittlungen ruhigen Gewissens nach Amrum. Dass der Auftrag des Kapitalisten ihm die Möglichkeit bot, weiter zu recherchieren, war ein Glücksfall, der ihm ohne sein Zutun in den Schoß geplumpst war. Es schien ihm jetzt sinnvoll, die ganze Mordgeschichte aus der Vogelperspektive des Leuchtturms auf Herz und Nieren zu überprüfen. Danach würde er nach Wyk weiterfahren, um den Wirt über Sklavenhandel auszufragen.
Das Achterdeck füllte sich, während Hansen die Sommerfrischler beobachtete, die in der Kutsche vorgefahren wurden oder zu Fuß von der Eisenbahnstation heranstrebten, gefolgt von Dienstleuten, auf deren Karren sich Koffer und Reisetaschen stapelten.
Hinter Hansen schwollen Gespräche und Gelächter zum Lärm an, Kinder begannen unter Geschrei über das Deck zu rennen, und Hunde, die an Leinen in den Händen von Damen zerrten, bellten sich gegenseitig an.
Die Schaufelräder liefen an, und kurz danach stieß der Schornstein schwarze Rauchwolken aus. Die Dampfpfeife gab ihr zweimaliges Signal zum Zeichen, dass die Andrea I gleich auf Backbordkurs in das Fahrwasser eindrehen würde.
Hansen legte bequem die Arme über die Reling und sah den Seeleuten zu, die die Gangway einzuholen begannen. Wie auf Kommando stoppten sie plötzlich, um auf einen verspäteten Fahrgast zu warten, der geräuschvoll den Kai entlangtrabte.
Allgemeine Erheiterung brach sich unter den Passagieren auf dem Deck Bahn. Ein Strohhut mit flatternden Bändchen unterstrich, dass der kurzbeinige Mann sich als Sommergast fühlte, dazu passten aber nicht die auf das Kopfsteinpflaster klatschenden Holzpantinen und der geflickte Seesack auf der Schulter.
Hansen schmunzelte nur verhalten. Was wusste denn er, warum dieser Mensch Holzschuhe trug? Vielleicht aus ähnlichen Gründen wie er selber am Vortag. Oder er wollte seine Lederschuhe nicht dem salzigen Spritzwasser aussetzen.
Schon während der Fahrt durch die ausgeprickte Rinne verzogen sich die meisten Passagiere auf das vordere Deck, wo sie nicht vom Qualm belästigt wurden. Hansen blieb neben dem Flaggenstock mit der Schleswig-Holsteinischen Fahne stehen, schaute ins schäumende Heckwasser und genoss die Reise.
Als er sich umdrehte, um mit dem Rücken an der Reling weiterzuträumen, fiel ihm der Mann mit den Pantinen am anderen Ende des halboffenen Achterdecks auf.
Sein breites grobes Gesicht mit der niedrigen Stirn wurde von einer auffallend schiefen Nase verunstaltet, die ihm ein brutales Aussehen gab. Der geradezu elegante Strohhut, der neben ihm auf der Bank lag, wurde in der Gesellschaftsschicht, aus der er offensichtlich stammte, nicht getragen. Frau Godbersen hätte ihn unverblümt als Kerl bezeichnet.
Als Hansen merkte, dass der Unbekannte seinerseits ihn beobachtete, beschloss er, sich seinen Roman aus der Reisetasche zu holen und irgendwo anders ein ruhiges Fleckchen zum Lesen zu suchen. Gemächlich wanderte er in Richtung Bug, breitbeinig, um das Gieren des schneller werdenden Schiffes abzufangen, das sich inzwischen im freien Fahrwasser befand.
Die Gepäckablage im Inneren des Dampfers war bis oben hin mit Koffern und Körben beladen. Es dauerte eine Weile, bis Hansen sich zu seiner Tasche vorgearbeitet hatte. Ihm wurde warm dabei, hauptsächlich durch den Strom heißer Luft, der aus der zum Maschinenraum offen stehenden Tür herauswirbelte. Die Kohlenschaufler da unten waren wirklich zu bedauern.
Hansen schob seine Tasche in eine Lücke zurück, klemmte sich das Buch unter den Arm und wanderte schwankend den engen Gang weiter. Hinter sich hörte er schnelle Schritte.
Bevor er ausweichen konnte, bekam er einen Stoß, der ihn über das Schott hinweg in den Abgang zum Maschinenraum schleuderte. Mit der Nase voran schoss er über den metallenen Rost einer handtuchbreiten Plattform, die im Nichts zu enden schien.
Hansens Jackettknöpfe retteten sein Leben. Sie verklemmten sich zwischen den gekreuzten Eisenstäben und verhinderten den Sturzflug abwärts. Gelobt sei Frau Godbersens Nähkunst, dachte er, als er einen Augenblick geschockt auf sein tief unter ihm im Maschinenraum liegendes Buch hinunterstarrte.
Eine fast senkrechte eiserne Leiter führte nach unten. Mit zitternder Hand stützte sich Hansen auf die oberste Stufe und stemmte sich in die Höhe, um sich im Schneidersitz gegen die Wand lehnend von seinem Schrecken zu erholen.
»Was passiert?«, brüllte ein verrußter Seemann von unten durch den Lärm der Maschine und hielt Hansens Buch in die Höhe. »Lebensgefährlich, wenn man nicht aufpasst! Der Aufenthalt da oben ist für Passagiere verboten! Steht auf dem Schild!«
»Ich hab's im Vorbeiflug nicht lesen können«, schrie Hansen zurück und nahm anschließend dem Heizer, der flink hochkletterte, dankbar sein Buch aus den Zähnen.
Dem Mann stand ein breites Grinsen im Gesicht, als er Hansen, mit beiden Händen an den Handläufen, aus gleicher Augenhöhe betrachtete. »Sie nehmen's anscheinend mit Humor. Dann darf ich wohl annehmen, dass Sie die offen stehende Tür nicht gleich dem Käpten melden?«
»Das dürfen Sie.« Hansen grinste kameradschaftlich. »Danke fürs Hochbringen.«
»Gern.« Der Heizer rutschte mehr nach unten, als dass er stieg, und war kurz darauf schon im Gewirr von Rädern und Kolben der Maschine verschwunden.
Hansen rappelte sich hoch und verließ die Plattform. Dieses Mal gab es keinen Zweifel, dass er absichtlich gestoßen worden war. Und eigentlich war die Aussicht auf Erfolg wesentlich besser gewesen als im Flensburger Hafen. Aus Fiete Rums Sicht war es Pech gewesen, dass Schwimmen eine von Hansens Freizeitbeschäftigungen war. Flugübungen im Maschinenraum eines Dampfers hingegen mussten in aller Regel mit dem Tod enden.
Nachdenklich starrte Hansen an Steuerbord über die silbrig glänzende Wasserfläche, erkannte ohne großes Interesse, dass sie Nordstrand hinter sich gelassen hatten, und beschloss dann, das Schiff nach Fiete Rum zu durchsuchen. Der konnte wohl kaum ahnen, dass Hansen eine ungefähre Beschreibung von ihm besaß. Er würde ihn zur Rede stellen. Mindestens das.
Da er es für wahrscheinlich hielt, dass jemand, der nicht auffallen wollte, sich in einer größeren Menschenmenge verstecken würde, wanderte er nach vorne. Der Dampfer lag inzwischen auf einem anderen Kurs, das Gieren hatte aufgehört, und viele Passagiere waren auf den Beinen. Die Männer standen mit Biergläsern oder Butterbroten an der Reling, Frauen unterhielten sich mit neuen Bekanntschaften über leere Deckstühle hinweg, und die Kinder spielten Nachlaufen. Nur die Hunde schliefen.
Er entdeckte niemanden, der Fiete Rums Beschreibung entsprach. Und alle diese zumeist fröhlichen Gesichter gehörten zu Badegästen und Urlaubern.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.06.2005