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Der hat den Laden in der Hand. Wundert mich, dass du überhaupt an ihn geraten bist.«
»Ja, mich auch«, stimmte Hansen wahrheitsgemäß zu.
»Stefan Nielsen hat nichts zu melden«, erklärte Müller mit leiser Verachtung. »Geschieht ihm aber ganz recht. Von seinem Papa wurde er wie ein Prinzchen aufgezogen. Nach dessen Tod ist es noch schlimmer mit ihm geworden, er ist kaum mehr in Flensburg, sondern meistens in der Welt unterwegs. Als Modegeck. Alles vom Neuesten, gleich ob Spazierstock oder Hut.«
»Dann macht er wohl seine Ausflüge mit dem Automobil?«, erkundigte sich Hansen.
»Klar, und der Alte benutzt wacker dasjenige, mit dem Nielsen nicht unterwegs ist. Sie haben zwei Chauffeure.«
»Ziemlich viel Geld in einem Geschäft, mit dem es bergab geht, findest du nicht? Jedenfalls, wenn man in Betracht zieht, was zur dänischen Zeit hier los gewesen sein muss. Und so berühmt ist sein Rum ja nun auch nicht, soviel ich weiß.«
Peter Müller nickte und leerte mit tiefsinniger Miene seinen Krug. »Ich vermute schon lange, dass es bei den Nielsens nicht mit rechten Dingen zugeht«, flüsterte er und blies die Backen auf. »Fiete Rum passt zu ihnen. Aber wenn sie jetzt schon Anschläge auf harmlose Deichbauer verüben, muss irgendetwas passiert sein, das sie nervös macht.«
Wum, wum, wum, ratterten die Waggons über die Schienen, und Hansens Kopf wurde im Takt dazu an die hölzerne Rückwand gestoßen. Die Bänke in der vierten Klasse waren höllisch unbequem, aber immer noch angenehmer als der Ruheplatz im Hafenschlick, der ihm zugedacht worden war, wie Peter Müller felsenfest glaubte.
Er selber war allerdings von dieser Sichtweise noch immer nicht überzeugt. Sofern Christiansen in den Hof gegangen war, um den Chauffeur mit einem Auftrag loszuschicken, hatte er dort vielleicht seinem Ärger über Hansen Luft gemacht. Und Fiete Rum, der sich gewohnheitsmäßig in den Rum-Kontoren herumtrieb, hatte es gehört, sich den blonden langen Friesen zeigen lassen und diesem anschließend vorgeführt, wie man in Flensburg mit unerwünschten Fremden umging. Vielleicht sogar im Einverständnis mit dem Prokurator, der dabei an einen kleinen, aber wirksamen Denkzettel gedacht hatte.
Mit dieser Erklärung beruhigte sich Hansen und begann einzudösen. Irgendwann spähte er, vom Pfeifen der Dampfpfeife aufgeschreckt, auf einen in der Dämmerung liegenden einsamen Bahnsteig mitten auf der Geest.
Ein Glück, dass er erst in der Dunkelheit in Husum ankommen würde. Er grinste in sich hinein. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sein Haus als heruntergekommener Seemann betreten würde. Aber er war zu müde, um sich im schaukelnden Waggon umzuziehen. Und sein Anzug war nicht nur nass, er stank auch erbärmlich.
»Nein, wie sind die von der Hallig bloß mit Ihnen umgegangen, Herr Inspektor!«, weckte am nächsten Morgen Petrine Godbersens aufgebrachte Stimme Hansen. »Haben sie Ihnen Ihren schönen Strohhut weggenommen und dafür diese schäbige Pudelmütze überlassen?«
Hansen fuhr in die Höhe und sah blinzelnd auf den Wecker. Verschlafen! Er rieb sich die Augen und schwang die Beine aus dem Bett, wo er eine Weile benommen sitzen blieb. »Der verdammte Strohhut hängt am Haken«, murmelte er und verschwieg ihr, dass er etwas verwahrlost aussah, weil er eine Zeit lang im Hafenwasser geschwommen war, bevor ihn jemand aufgefischt hatte.
Glücklicherweise ließ Frau Godbersen ihn in Ruhe, was ihm Zeit zum Nachdenken gab. Er hatte jetzt ein Problem. Seinen Vorgesetzten. Auf die Begegnung mit Cornelius Petersen freute er sich nicht im Geringsten. Er würde allerhand zu erklären haben. Wenn es überhaupt noch etwas zu erklären gab.
»Und dieses blaue löcherige Ding«, schimpfte seine Haushälterin aus der Badestube heraus, wo Hansen alles hatte liegen lassen, bevor er kurz vor Mitternacht ins Bett gefallen war. »Was müssen das für heruntergekommene Menschen auf der Hallig sein!«
Hansen schüttelte mit unbestimmtem Lächeln den Kopf und nahm sich vor, ihr in einer ruhigen Stunde von der Hallig zu erzählen. Auch von den Halligfrauen.
Im Augenblick fand er nur wenige Worte. »Die Männer gehen stets in Hemden, die von Ihnen geplättet sein könnten, Frau Godbersen, und der Lehrer verlässt ohne Zylinderhut nicht das Haus. Sie sind sehr anständige Menschen«, widersprach er laut.
»So? Dann waren Sie wohl gar nicht auf der Hallig! Da möchte ich mal wissen, wo Sie herumgestreunt sind! Herr Wasserbauinspektor!«, sagte sie in einem Ton, als hätte sie Hansen bei einer fetten Lüge erwischt.
»Ich erzähle es Ihnen«, versprach er friedlich. »Nur jetzt nicht. Jetzt brauche ich einen starken Kaffee.«
»Verdient haben Sie ihn nicht«, sagte Petrine Godbersen, aber im Ton schon etwas milder.
Und auf dem gedeckten Frühstückstisch fand Sönke Hansen wenig später eine Kanne mit Kaffee vor, die für eine dänische Familienfeier gereicht hätte.
Auf dem Weg zum Amt konnte Hansen sich nicht erinnern, wie der Kaffee geschmeckt hatte, nur dass sein Duft ihm aus der Haustür gefolgt war.
Hoffentlich war er kräftig genug gewesen, um ihn für die Begegnung mit seinem Vorgesetzten zu rüsten.

Kapitel 15

H
atte der Oberdeichgraf die letzten Wochen auf der Treppe gestanden und auf ihn gewartet? Sönke Hansen vergaß für einen Augenblick seine Beklemmung, als er im unbeleuchteten Treppenhaus nach oben spähte. Von Holstens Kleidung und Aktentasche waren die gleiche wie vor seiner Reise zur Hallig.
Nur die Miene des Barons war, wenn überhaupt möglich, noch finsterer.
»Sie!« Herr von Holsten musste sich räuspern. »Sie wagen es, Hansen, hier hereinzuspazieren, mit einem Unschuldsgesicht wie ein diebischer junger Jagdhund? Sie haben gegen Dienstanweisungen verstoßen! Ist Ihnen das klar, Hansen?«
Hansen schüttelte den Kopf. »Wenn man es mit den Vorschriften genau nimmt, Herr Baron, habe ich nicht gegen Dienstanweisungen verstoßen. Dienstanweisungen bekomme ich von meinem Vorgesetzten. Von Ihnen bekam ich einen Brief. Um der Sache willen konnte ich Ihrer Bitte zu diesem Zeitpunkt nicht nachkommen.«
»Es war keine Bitte«, brüllte von Holsten durch das Treppenhaus, dass sich der Schall brach. »Es war ein Marschbefehl!«
»Ja, durchaus. Ich habe ihn verstanden.«
»Aber?« Der Baron erstickte fast an seinem Zorn. »Wollen Sie mir jetzt auch noch zu verstehen geben, dass ich kein Recht habe, Ihnen Befehle zu geben?«
»In Ihrer Eigenschaft als Berichterstatter einer Kommission É Ja, Herr Baron, das will ich, wenn Sie darauf bestehen«, sagte Hansen leise.
»Dann ist wohl jedes weitere Wort überflüssig!« Von Holsten stampfte die Treppe herab, als wollte er die Stufen in Grund und Boden treten, und dazu klirrte die eiserne Zwinge seines mit Jagdplaketten verzierten Wanderstockes kreischend und unangenehm auf dem ausgetretenen Sandstein.
Es war für Hansen kein Triumph, die Schlacht gewonnen zu haben. Er hätte die Auseinandersetzung gerne vermieden, aber er dachte gar nicht daran, vor einem Menschen wie dem Baron zu kuschen.
Im Flur kam ihm Friedrich Ross entgegen, mit einem dicken Aktenbündel unter dem Arm. Hansen nickte ihm zu und wollte vorbeigehen. Nach einem Gespräch stand ihm nicht der Sinn.
Ross blieb jedoch vor ihm stehen, betrachtete demonstrativ erstaunt Hansens im Amt ungewöhnliches Schuhwerk und sah sich anschließend unauffällig um. »Moin, Sönke«, grüßte er mit gedämpfter Stimme, »warst du schon an deinem Schreibtisch?«
Merkwürdige Frage. Hansen krauste die Stirn. In den Augen von Ross las er Neugierde. Aber noch mehr. Irgendetwas anderes, das ihn beunruhigte. Er schüttelte den Kopf.
»Wirst dich freuen«, sagte Ross und setzte seinen Weg unter unterdrücktem Gelächter fort.
Hansen schluckte trocken und beschleunigte seinen Schritt. Was konnte das sein? Ein Kündigungsschreiben? Aber würde sich ein Kollege, der ihm immer sympathisch gewesen war, sich darüber amüsieren?
Sein mahagonibrauner Schreibtisch war leer bis auf einen Brief, den jemand im Zentrum der Arbeitsplatte deponiert hatte. Die Akten, die wie üblich als Vorgänge auf dem Tisch jedes Abwesenden zu landen pflegten, waren auf seinen Stuhl gestapelt worden.
Er stürzte hin und riss den Brief an sich. In zierlicher Schrift standen sein Name und die Amtsadresse auf dem Umschlag. Hansen drehte ihn um. Absender: Jorke Payens, Hallig Langeness.
Sönke Hansen stieg das Blut zu Kopfe. Er wischte die Akten vom Stuhl und ließ sich mit butterweichen Knien auf das harte Holz fallen.
Minutenlang behielt er den Brief in der Hand, unfähig, ihn zu öffnen. Was wollte Jorke? Warum schrieb sie ihm nach nur einer gemeinsamen Nacht?
Und warum nur hatte er sich so hinreißen lassen? Inzwischen bereute er seine Unbesonnenheit. Hinzu kam die Furcht, dass das flüchtige Abenteuer Folgen gehabt haben könnte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.06.2005