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Auf dem Ufer häuften sich aufgebockte Schiffsrümpfe, Öl schillerte in Wracks und auf rostigen Eisenteilen, und eine Werfthalle versperrte ihm den Weg. Eine ungastliche Gegend, die nicht zum Weitergehen einlud, so dass er umkehrte.
Aus dem großen Tor von Nielsens Rum-Kontor rollte gerade eines der Automobile heraus. Die Pfütze hatte sich weiter ausgebreitet, und Sönke Hansen wich vor dem Spritzwasser auf den Kai aus, wo es am großen Kran des Zollpackhauses trockener war. Dort drängten sich immer noch die Flensburger um einige Schiffe, die im Päckchen nebeneinander lagen, mit dem Bug zur Spundwand und vor Heckanker.
»Frühe Kirschen, beste Kirschen!«
Hansen sah auf. Über die Köpfe der Hausfrauen in dunklen Schuten und die der Mägde in hellen Hauben hinweg konnte er das Schild am Mast des einen Schiffes lesen: Obstverkauf von D. Bendixen Langballigau.
Umgeben von Kistenstapeln, stand der Obstverkäufer breitbeinig auf dem Vorschiff und spähte nach weiteren Kunden aus. Obwohl in schwarzem Anzug und Schiffermütze, machte er den Eindruck eines Witzboldes. Die Käufer schienen auf sein Marktgeschrei zu warten, und einige lachten noch über einen Spaß, den Hansen nicht mitbekommen hatte.
Der Obstbauer erblickte Hansen und grinste erwartungsvoll. »Kirschen, schöner junger Mann, rot und süß wie die Lippen deiner Geliebten!«, brüllte er. »Zwei Pfund für dein Liebchen, wie wäre es damit? Komm und koste und schwöre diesen blutjungen Damen hier, dass sie jeden Mann mit einer Kirsche aus Langballigau betören können!«
Hansen, der sich so plötzlich im Mittelpunkt des Interesses der Flensburger Hausfrauen befand, wollte kein Spielverderber sein. Schmunzelnd und nicht ganz unwillig ließ er sich zur Kaikante vorschieben, zumal ihm freundlicherweise eine Gasse geöffnet wurde, und streckte die Hand nach den angebotenen Früchten aus.
Ein heftiger Stoß traf seinen Rücken. Er ruderte hilflos mit den Armen in der Luft und versuchte vergeblich, die Balance zu wahren. Die Schreie der entgeisterten Zuschauer in den Ohren, fiel er zwischen zwei Bootssteven ins schwarze Hafenwasser.

Sönke Hansen sackte hinunter. Noch auf dem Weg nach unten streifte er sich die Schuhe von den Füßen, stieß sich am Grund ab und durchbrach wenige Augenblicke später die Wasseroberfläche, wo er dankbar Luft holte.
Eine Scholle mit grauen, blinden Augen dümpelte ihm entgegen. Zwischen den Booten schwappte überhaupt eine ekelhafte Mischung von faulenden Gemüseresten und Fischen, von Koksstückchen und treibendem Seegras umher.
Hansen sah nach oben. Die Spundwand, über der sich gaffende, erschrockene Frauengesichter drängten, war mehr als mannshoch, und die verrottenden Latten zwischen den Pfählen machten nicht den Eindruck, als ob sie ihn tragen könnten. Der Obstbauer stand wie gelähmt auf seinem Vorschiff, verschanzt hinter einer Mauer von Kisten und mit Booten wahrscheinlich sowieso nicht vertraut.
Hansen besann sich nicht lange, tauchte ab und fädelte sich zwischen den benachbarten Bootsrümpfen hindurch bis zu den Ankertauen. Mit einigen kräftigen Kraulbewegungen gewann er das freie Hafenwasser, wo er Wasser trat, während er das Ufer nach einer brauchbaren Stelle zum Hochklettern absuchte.
Ein greller Pfiff lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Mann, der einen Rettungsring kreisen ließ und ihn dann hinausschleuderte. Hansen fing ihn ein und ließ sich ans Ufer ziehen, wo er entdeckte, dass am anderen Ende des Taus Peter Müller, der Hafenarbeiter, stand. Sogar eine Strickleiter hatte er schon ausgerollt, die an der hier geschwärzten glitschigen Kaimauer pendelte.

Der triefend nasse Anzug zog schwer an Hansen. Er war dankbar, als vier kräftige Hände ihn packten und auf den Kai hochhievten. Er sank auf das Kopfsteinpflaster, den Rücken am Poller, an dem die Strickleiter befestigt war, und bemerkte voll Grausen, dass die Kunden von den Apfelkähnen neugierig herbeieilten. Er sandte einen Hilfe suchenden Blick zu Müller.
»Es ist gut, Leute, ihr könnt gehen«, rief Peter Müller launig in die Runde. »Es ist nichts passiert. Nicht dass ich wüsste, warum mein Freund Sönke im Hafen baden musste, bevor er mich besuchte - hätte er ja auch hinterher tun können -, aber ich kümmere mich um ihn.«
Die Zuschauer lachten, als wäre alles nur ein großer Spaß gewesen, und begannen sich zu zerstreuen, als nichts Aufregendes mehr passierte.
»Danke«, murmelte Hansen.
Müller half ihm auf und machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die Rumboddel. »Dorthin. Die haben trockene Kleidung in allen Größen. Du bist nicht der Erste, der in den Hafen gefallen ist. Höchstens der erste Stocknüchterne.«
»Woher willst du das so genau wissen?«, fragte Hansen sarkastisch. Er blieb beim du. Noch nie war nach kurzer Bekanntschaft jemand so entscheidend und hilfreich in sein Leben getreten. Auf Socken patschte er vorsichtig hinter Müller her, der ihm einen Schritt voraus war. Er hatte keine Lust, obendrein noch auszurutschen und hinzuschlagen. Die Aufmerksamkeit, die er heute genossen hatte, reichte ihm für lange Zeit.
Müller blieb stehen. Als Hansen aufgeschlossen hatte, entdeckte er, dass sein Retter mit nachdenklicher Miene auf der Unterlippe nagte.
»Vierzig Jahre Erfahrung mit Flensburger Spirituosen. Außerdem habe ich die Hand gesehen, die dich über die Kante befördert hat«, antwortete Müller schließlich.

Der Wirt, den sein Knecht vorübergehend am Tresen abgelöst hatte, wühlte in einer Truhe, die den schmalen Gang zur Hintertür fast versperrte, nach Kleidungsstücken für Hansen. Offensichtlich stammten sie allesamt von Seeleuten.
Sönke Hansen nahm zähneklappernd einen zerlöcherten Troyer und eine Hose, die ihm zu kurz war, entgegen. Alles war gewaschen, trocken und warm, einzig das zählte an diesem kühlen Tag.
Auf dem Rückweg in die Schankstube lieferte er am Tresen einen nassen Geldschein ab, um seine Kreditwürdigkeit zu beweisen. Es stand zu befürchten, dass er im Augenblick viel Ähnlichkeit mit einem Landstreicher hatte. Der Schankknecht dankte grinsend für das Trinkgeld und deutete zu dem Tisch in der Ecke hinüber, an dem Peter Müller schon bei einem Bier saß.
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Sönke Hansen sich auf der Wandbank nieder, um sich erst einmal einen ausgiebigen Schluck aus dem für ihn bereitstehenden Krug zu gönnen.
»Das hätte auch anders ausgehen können«, bemerkte Müller. »Aber Männer von der Waterkant lassen sich nicht so leicht ertränken.«
Ertränken? »Glaubst du wirklich?« Hansen bezweifelte es entschieden, wollte aber nicht unhöflich wirken. Diese biederen Hausfrauen vor den Apfelkähnen kamen doch nicht auf solch abartige Ideen.
»Aber ja doch. Es war ein Kerl, der am Hafen bekannt ist, aber natürlich habe ich nicht auf ihn, sondern auf dich geachtet. Ich wollte sehen, ob du dich von den Langballigauern einwickeln lässt. Wenn die da sind, haben die Leute immer viel Spaß. Manche kommen nur deswegen.«
»Heute sind sie ja besonders auf ihre Kosten gekommen«, bemerkte Hansen säuerlich. »Bezahlen die Langballigauer dafür?«
»Quatsch«, sagte Müller entrüstet. »Die Bauern sind redliche Leute. Die heuern keinen für so etwas an. Und der Kerl trieb mit dir keinen Scherz, das war ernst. Über den Kopf einer Hausfrau hinweg stieß er dir seine Faust zwischen die Rippen. Er ist eine lange dürre Latte, noch größer als du.«
»Und mit kräftigen Fingerknöcheln. Du kennst ihn?«
»Kennen ist zu viel gesagt, ich will nichts mit ihm zu tun haben, das will keiner. Ich weiß nur, wer er ist. Er wird Fiete Rum genannt. Treibt sich immer am Hafen herum.«
»Und ist immer besoffen und hat sich über mich, oder die Aufmerksamkeit, die ich bekam, geärgert. Vielleicht war es das. Es war mir selbst etwas peinlich, aber ich wollte kein Spielverderber sein«, setzte Hansen die Erklärung fort. Er glaubte keineswegs, dass er das Ziel eines Anschlags gewesen sein sollte. Als Schabernack war er allerdings ziemlich derb gewesen.
»Ich habe ihn noch nie so betrunken gesehen, dass es auffällig gewesen wäre, eher im Gegenteil«, widersprach Müller. »Den Beinamen hat er, weil er geschäftlich irgendetwas mit Rum zu tun haben soll, nicht weil er ihn trinkt. Aber bei rechtschaffener Arbeit hat ihn noch nie jemand erwischt.«
Sönke Hansen zuckte zusammen und starrte ihn an.
»Was ist?«
»Ich war kurz vorher in Nielsens Rum-Kontor. Man hat mich praktisch hinausgeworfen.«
Der Hafenarbeiter schob seinen Krug von sich fort, legte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich zu Hansen herüber. »Sieh an. Ist ja interessant«, sagte er gedämpft. »Warum?«
Hansen schüttelte ratlos den Kopf, bevor er antwortete. »Es ist mir selbst ein Rätsel. Der Alte geriet außer sich, als ich den Sklavenhandel erwähnte, und kam dabei richtig ins Faseln.«
Peter Müller gab einen Pfiff von sich. »Der Alte! Donnerwetter! Ja, der ist ein ganz Knochenharter. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.06.2005