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Und auf einem handschriftlichen Zettel, der mit einer Stecknadel festgespießt war, war hinzugefügt, dass die am Ring befestigten Stangen mit Haken es den Flüchtigen unmöglich machen sollten, sich schnell durch die Zuckerrohrfelder oder das Unterholz der Wälder zu bewegen.
Der Wirt vom Vernarbten Schulterblatt hatte Hansen mit der Nase draufgestoßen, und er hatte es nicht begriffen!
In diesem Augenblick flog die Tür auf. Christiansen verhinderte mit der Stockzwinge, dass sie zurückschlug. Aus seiner Miene loderte Feindseligkeit. »Herr Nielsen ist für Sie nicht zu sprechen«, schmetterte er Hansen entgegen. »Weder heute noch in Zukunft! Ich bitte zu respektieren, dass wir mit preußischen Beamten keinen privaten Umgang pflegen.«
Sönke Hansen verschlug es bei diesem Anwurf voller Gift die Sprache. Er erinnerte sich, beim ersten Besuch im Kontor Dänisch gesprochen zu haben. Jetzt beschloss er, beim Deutschen zu bleiben. »Ich verstehe«, sagte er ruhig. »Herr Nielsen zieht den dänischen Königshof vor, sofern er sich nicht mit den Leuchtfeuern an der Westküste beschäftigt.«
Der Prokurator runzelte verständnislos die Stirn. Plötzlich begriff er, worauf Hansen anspielte. »Die Eingabe wegen des Leuchtfeuers wurde durch den seligen Frederik Nielsen getätigt, dem Vater von Stefan Nielsen, dem jetzigen Firmeninhaber. Stefan Nielsen fühlt sich dem Rumhandel weniger verbunden. Das Geschäft lastet auf meinen Schultern.«
»Ist denn der Rumhandel heute noch so lukrativ?«, erkundigte sich Hansen sarkastisch, zutiefst verärgert. »Oder zehrt die Firma immer noch vom Sklavenhandel?«

Christiansens Fingerknöchel am Griff seines Stockes wurden weiß. Er humpelte einige Schritte auf Hansen zu. »Was wissen Sie schon vom Sklavenhandel?«, fragte er mit einer Stimme, die seine brodelnde Wut nur knapp verbarg.
Anscheinend hatte Hansen eine ganz empfindliche Stelle getroffen. Noch während er nach einer angemessenen Entschuldigung suchte, holte der Prokurator, den Blick auf das Bild des Firmengründers gerichtet und mit den Gedanken anscheinend weit in der Vergangenheit, zu einer Erklärung aus.
»König Christian VIII. hatte allen Besitzern von Schwarzen eine Übergangsfrist von zwölf Jahren für die Freilassung eingeräumt. Die lief 1859 ab. Frederik und ich haben deswegen den Forderungen während der Revolutionen im Jahr achtundvierzig keine Beachtung geschenkt. Sie fanden in Europa statt und hatten mit Dänisch-Westindien gar nichts zu tun. Es verstieß gegen geltendes Recht, dass diese Revolutionäre von Europa aus nach der Freilassung der Plantagenarbeiter in einem ganz anderen Teil der Welt riefen. Die gingen sie gar nichts an!«
Christiansen sprach so leidenschaftlich, dass Hansen ihm stumm zuhörte.
»Die Revolutionäre hatten vor allem keine Ahnung von der Bewirtschaftung von Plantagen! Zuckerrohr benötigt Schwarze. Und die Freicouleurten bewiesen jeden Tag, dass sie dem Leben in Freiheit nicht gewachsen waren! Neger brauchen einen Herrn, der für sie sorgt!«
»Aha«, murmelte Hansen wie gelähmt. Ihm wurde klar, dass der Prokurator den Umschwung in der Art des Handels, wie er ihn wohl erlernt hatte, nie verwunden hatte. »Waren Sie denn damals schon im Geschäft?«
»Ich habe zusammen mit Frederik Nielsen das Geschäft erst richtig aufgebaut«, sagte Christiansen stolz und stieß mit der Stockzwinge auf den Fußboden. »Sein Vater Carl Heinrich hat es gegründet, das wohl, aber in Schwung gebracht haben wir beide es. Stefan hat wenig damit zu tun. Er wurde erst einundsechzig geboren. Frederik hat so spät geheiratet, dass Stefan die Blüte des Zucker- und Rumhandels gar nicht mehr erleben konnte.«
Hansen rechnete rasch nach. Dann war Stefan Nielsen ja erst dreiunddreißig Jahre alt. Er hatte ihn automatisch für einen älteren Herrn gehalten, zu dem die luxuriösen Automobile im Hof passten.
»Frederik nahm mich gleich in meinem ersten Lehrjahr mit auf seine größte Plantage Carlsminde, so benannt nach seinem Vater, der auf St. Croix gestorben war, jedoch auf der ersten, viel kleineren Plantage der Familie. Das war im Jahr achtundvierzig. Ich habe nie in meinem Leben wieder solche Angst ausgestanden wie bei meiner ersten Reise dorthin.«
»Wovor?«
»Dass die aufständischen Mohren uns die Hälse durchschneiden würden, natürlich. Damals habe ich begonnen, sie zu hassen. Wir haben uns schließlich auf die Missionsstation der Herrnhuter gerettet und sind bald danach glücklich abgereist.«
»Und die Sklaven, haben die wirklich jemanden ermordet?«, fragte Hansen sanft.
»Nein, haben sie nicht«, antwortete Christiansen in barschem Ton und kehrte erkennbar aus seiner Reise in die Vergangenheit zurück. Sein plötzlich auf Hansen gerichteter Blick brachte diesen zum Frieren. »Warum interessieren Sie sich für einen Sklavenhandel, den es nicht mehr gibt?«
»Ich habe einen Halsring gefunden«, antwortete Hansen wahrheitsgemäß, »wusste aber bis eben nicht, dass er im Sklavenhandel von Bedeutung ist.«
»Gefunden?«, fragte Christiansen mit Misstrauen im Blick. »Wo und wann?«
»Kürzlich. Auf der Hallig Nordmarsch.«
Der Prokurator starrte Hansen an, als hätte er den Tod vor Augen.


Kapitel 14

R
aus!«, brüllte Nils Christiansen, als er sich von seiner Bestürzung erholt hatte. Seine Lippen nahmen eine bläuliche Färbung an und zitterten vor Erregung.
Sönke Hansen unternahm nicht einmal den Versuch, ihn zu beschwichtigen. Er wollte nicht daran schuld sein, dass ein alter Mann vor Aufregung an Herzversagen starb.
Die kleine Pforte wurde hinter Hansen zugeschmettert und verriegelt. Draußen trat er in eine Pfütze, die vom Waschwasser im Kontorhof gespeist wurde, und spürte, wie die Nässe durch seine Schuhsohlen drang.
Tief in Gedanken, mit den Händen in den Hosentaschen, schlug er den Weg nach Norden ein, wo jenseits des Nordertors die Neustadt begann und das Fördeufer weniger belebt war. Er versuchte zu verstehen, was Christiansen so erregt hatte.
Des Pudels Kern schien der Sklavenhandel zu sein. Hatte nicht der Wirt auf Föhr ganz genauso reagiert? Es war offensichtlich ein auch heute noch heißes Thema für alle, die davon gelebt hatten. Aber, du lieber Himmel, es waren seitdem vierzig, fünfzig Jahre vergangen.
Warum also interessierte sich ein Prokurator für den Zeitpunkt und den Ort, an dem jemand einen Sklavenhalsring gefunden hatte? Es musste in der Welt Tausende davon geben.
Ohne eine schlüssige Antwort zu finden, wanderte Hansen immer weiter. Blöken und Muhen verrieten ihm, dass er sich in der Nähe des Schlachthofs befinden musste.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.06.2005