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Bedächtig ließ Hansen seine Augen wandern. Von Friedrichsens schlickbeschmierten Stiefeln gelangte er schnell zu einer Doppelspur im hallignahen Schlick, die ins Watt hinausführte und sich zwischen schilfbestandenen Torfinseln im Sand verlor. »Liegt da draußen nicht irgendwo die Süßwasserquelle, die den Langenessern gehört?«, erkundigte er sich höflich.
»Die Langenesser sollen mal den Mund nicht so voll nehmen! Und überhaupt: Die Quelle bringt nur Ärger. Aber was geht dich das an«, giftete Friedrichsen und machte sich davon, so schnell er konnte.
Hansen sah ihm nach. Über der Öljacke, wie Fischer sie trugen, schleppte Friedrichsen die Ringe einer Aalreuse mit einem beutelartigen Netz, das einen langstieligen Kleispaten darunter nicht ganz verdeckte.
Er hatte gar nicht gewusst, dass Aalreusen unter Schlick geraten konnten und ausgegraben werden mussten. Auf jeden Fall hatte Friedrichsen nichts gefangen und war wohl deswegen schlecht gelaunt gewesen. Im Gegensatz zu ihm selber.
Hansen nahm sein Pfeifen wieder auf, so laut, dass Friedrichsen es noch hören musste, und marschierte in aufgeräumter Stimmung weiter.
Sein Gewissen erwachte stürmisch, als er packte. Er hätte es nicht tun sollen! Er liebte nur Gerda! Und sie durfte zu Recht von ihm erwarten, dass er ihr treu war.
Sönke Hansen schmetterte wütend über sich selbst sein Notizbuch in die Reisetasche, dann ließ er sich auf den Stuhl am Fenster nieder. Gedankenverloren begann er das weiche Leder der Tasche auf seinem Schoß zu streicheln. Gerda war die Frau, mit der er sein Leben verbringen und Kinder haben wollte, er hörte schon ihre munteren Stimmen im Garten. Sie würden auf dänische Art frei aufwachsen, nicht als artige Marionetten in blauweißen Matrosenanzügen, die nach dem Nachmittagstee für eine Stunde auf ein Schaukelpferd klettern durften.
Und Jorke? Jorke war anders. So unkompliziert. Frisch wie eine Halligbrise. Sie hatte erwähnt, dass er ihren Brüdern ähnlich sei. Daran wollte er nicht denken. Trotzdem spürte er, was sie meinte. Er konnte sich gut vorstellen, Jorke auf eine Segeltour mitzunehmen und sie an der Vorschot anzulernen. Oder mit ihr im Schlick zwischen zwei Schleusentoren umherzustapfen, um ihr die Feinheiten des Bauwerks zu erklären. Oder É

Er unterbrach seine unsinnigen Gedanken. Wie konnte er diese beiden Frauen nur vergleichen!

Vielleicht, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, vielleicht, weil seine Gefühle für Gerda ihn plötzlich wie eine Flutwelle überkamen, beschloss er, noch heute ihre vage Spur aufzunehmen. Nach Ansicht seines Dienstherrn hatte er sich gewiss schon so weit vom Pfad der Tugend entfernt, dass zwei weitere Tage Abwesenheit vom Amt auch keine Rolle mehr spielten.
Dieses Mal hatte er Glück, was Halligewer, Dampfschiff und Zug betraf.
Spätabends betrat er das Haus von Ella und Lars Rasmussen in Tondern. Sie betrachteten ihn besorgt, als er auf die Schlagbank in der Küche sank. Ella versorgte ihn erst einmal mit einem großen Becher Kaffee, und Lars stellte ein Gläschen Aquavit daneben.
»Bist du auf der Flucht?«, erkundigte sich Lars, als er davon ausgehen konnte, dass die Lebensgeister seines künftigen Schwiegersohnes langsam wieder erwachten.
Sein beiläufiger Blick auf Hansens Gepäck und der beziehungsvolle auf die Dreckspritzer an der Hose, die er sich zugezogen hatte, als er im Regen zum Zug gehetzt war, brachten Hansen zum Lachen.
»Nein, das nicht. Es sei denn, meine Dienststelle lässt mich schon suchen. Dem Oberdeichgrafen wäre es zuzutrauen. Bin ein bisschen zu lange auf der Hallig geblieben. Hatte meine Gründe. Aber ich wette, du würdest mich verstecken, Lars.«
»Das würde ich«, bestätigte Rasmussen ernsthaft und schien beruhigt. Er sog heftig an der Pfeife, die er gerade angezündet hatte und die mit gurgelndem Geräusch den Dienst verweigerte.
»Genau wie deine Tochter.«
»Dazu gibt es nichts zu sagen.«
»Aber sie lebt?«, fragte Hansen hoffnungsvoll.
Doch Lars Rasmussen presste die Lippen aufeinander. Ella rang unter dem Tisch verzweifelt die Hände.
Trotz allem hatte Sönke Hansen nicht den Eindruck, dass Lars um seine Tochter besorgt war. Er schien etwas zu wissen, das er nicht preisgeben wollte.
Hansen spürte, dass er nicht weiter nachfragen durfte. Aber mit Ella wechselte er einen Blick. Hoffentlich war Lars nicht dabei, sich so weit im Widerstand zu verstricken, dass er der preußischen Obrigkeit eine Handhabe bot, ihn festzunehmen. »Du bist dir im Klaren, dass du dich gefährdest?«, fragte er.
Der Journalist nickte mit düsterer Miene.

Sönke Hansen beschloss, das Thema zu wechseln. »Kennst du einen Herrn Andresen, der eine Aktiengesellschaft auf Amrum gegründet hat?«
»Aksel Andresen«, antwortete Rasmussen prompt und auskunftsbereit wie stets, wenn es nicht um Gerda ging. »Ich kenne jeden Kapitalisten in der Gegend, besonders dänische, die es mit den Preußen halten. Ein Blutsauger und Ausbeuter, der Kerl.«
»Lars, sag das nicht so laut«, rief Ella entsetzt und sah zur Tür, als ob dort gleich Polizisten eintreten könnten.
»Schon gut, Ella. Aber es stimmt, und die Wahrheit muss heraus! Andresen ist nicht angenehmer als andere Feinde. Ich hoffe, die Amrumer werfen ihn hinaus.«
»Es sah nicht so aus, als ob sie einen Grund hätten«, urteilte Hansen. »Die Hotels und Logierhäuser wirken gepflegt, dazwischen liegen nagelneue Tennisplätze. Und was der Leuchtfeuermeister mir über Andresens Pläne erzählte, lässt für die Zukunft noch mehr von allem befürchten.«
»Unser Andresen hat die Protektion eures Oberdeichgrafen.«
»Darum also«, sagte Hansen verblüfft. »Solche Leute finden einander immer, wie es scheint.«
»Gauner aller Länder, vereinigt euch! Mein Beitrag zum kommunistischen Manifest«, bemerkte Rasmussen. »Dann ist da nichts mehr zu machen. Aber ich könnte den Amrumern ein paar Ratschläge geben, damit sie nicht vor lauter Sommergästen eines Tages zum Auswandern gezwungen werden.«
»Lars, nun hör aber auf«, schimpfte Ella erzürnt. »Stachele nicht auch noch Sönke auf. Ich bin dankbar, jemanden in der Familie zu haben, um den ich mich nicht aus Gründen der Politik sorgen muss.«
Hansen lächelte Ella zu. Sie war ein Gottesgeschenk als Schwiegermutter.
Das windige, regnerische Wetter hatte Flensburg schon erreicht, als Sönke Hansen am nächsten Vormittag aus dem Zug stieg. Wie zur Bekräftigung ihres ersten Tipps hatte Ella ihm am Morgen einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem Stefan Nielsen stand. Sie war offensichtlich so beunruhigt und bekümmert wegen Gerda, dass sie ihn nochmals um Hilfe bat. Er wollte und konnte ihr die nicht verweigern.
Ohne sich sonderlich für die Menschenmenge zu interessieren, die sich an Nielsens Kaiabschnitt vor mehreren Kuttern drängte, als ob es an diesem Tag Heringe zum Sonderpreis gäbe, steuerte er auf das Kontor zu.
Beide Flügeltüren der Toreinfahrt waren aufgeschlagen. Ein Rinnsal bahnte sich seinen Weg über das Kopfsteinpflaster in Richtung auf die Spundwand. Ein Blick lehrte Hansen, dass im Hof ein Chauffeur in Uniform ein Automobil wusch. Ein zweites war so staubig, dass es ebenfalls ein Vollbad verdient hatte. Donnerwetter, dachte er beeindruckt.
Wieder war der junge Mann da, der Hansen beim ersten Besuch so resolut hinausbefördert hatte. »Herr Nielsen ist nicht da«, beteuerte er eilig, als er Hansen erkannte.
»Wann ist er denn mal zu sprechen?«, fragte Hansen verärgert. »Ein Firmeninhaber hat doch bestimmt auch Arbeitszeiten. Ich komme extra aus Husum, um mit ihm zu reden.«
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben«, erwiderte der Jüngling unbeeindruckt. »Aber so bald wird Herr Nielsen sicher nicht zurückkehren. Unser Kontor genießt höchstes Ansehen in aller Welt. Der König geruhte gerade, Herrn Nielsen zu einem Fest nach Amalienborg einzuladen É«
Er wartete, bis Hansen die Information verdaut hatte. Die Hand schon auf der Türklinke, versprach er: »Ich hole Herrn Christiansen«, und verschwand, bevor Hansen protestieren konnte.
Nils Christiansen würde genauso wenig wie vor einigen Wochen über die Verschiffung von dänischen Staatenlosen sprechen. Wenn einer ihm Auskunft geben konnte, dann nur Nielsen selbst. Vielleicht wusste Christiansen nicht einmal etwas davon.
Oder doch, sofern alle diese Mutmaßungen überhaupt zutrafen? Aber als Diener seines Herrn war er natürlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Mit den Händen auf dem Rücken, begann Hansen zwischen den Vitrinen im Vorraum umherzuwandern. Am liebsten wäre er gleich gegangen, aber das war ausgeschlossen - eine Frage der Höflichkeit.
Plötzlich riss es ihn geradezu herum. Mit beiden Händen am Glaskasten und die Nase dicht an der Scheibe, starrte er hinein. Da lag ein Ring, der seinem glich wie ein Zwilling!
Eiserner Halsring für Sklaven, die schon mehrfach maroongelaufen sind, las er vom beigefügten Messingschildchen ab. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.06.2005