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Unter seinen Füßen spürte er jetzt das Vibrieren des Bootsrumpfes. Er genoss trotz allem die Fahrt, als sie mit halbem Wind und weit gefierten Segeln langsam den Sänden entgegentrieben, auf denen seiner persönlichen Meinung nach ein Mann einen gewaltsamen Tod gefunden hatte.
Die Seesand-Bake war der einzige feste Punkt in dieser Wüste aus Wasser und Sänden, in der sie hin und her kreuzten. Während Hansen dem Fischer half, das Netz hochzuholen, die Krabben in die Körbe zu leeren und wieder auszuwerfen, fing er die Bake mehrmals aus dauernd wechselnden Richtungen mit den Blicken ein, um sich zu orientieren.
»Ich würde die Bake gerne besichtigen«, sagte er plötzlich. »Ich lege noch einen Reichstaler drauf.«
Steffensen nickte und zog das Netz an Bord. In weitemBogen segelte er um die Bake herum, holte das Schwert hoch und warf schließlich wenige Schiffslängen vom ausgeprickten Fahrwasser entfernt in einem Priel Anker. »Näher kann ich nicht heran, ich muss hier bleiben, um noch eine Handbreit Wasser unter dem Kiel zu haben. Du musst dich beeilen.«
Hansen war bereits dabei, sich Stiefel und Hosen auszuziehen, und ließ sich kurz darauf ins Wasser gleiten. Es war kalt, aber wenigstens gab es in Lee der Sandbank keine höheren Wellen. Als er mit den Zehen auf Sand stieß, erhob er sich und watete auf die Sanddüne zu, die trocken lag.
Die Bake war aus dieser Nähe überwältigend hoch. Hansen legte den Kopf in den Nacken, um das baumhohe Seezeichen in Augenschein zu nehmen. Gekrönt wurde es von einemkugelförmigen Toppzeichen, und auf halber Höhe befand sich die Fensteröffnung des Schutzraums, von dem ihm der Leuchtturmwärter erzählt hatte.
Diese Kletterpartie würde für manchen Schiffbrüchigen, der hier ermattet anlangte, zu viel sein, dachte Hansen, als er begann, die stabile Leiter hochzuklettern. Für einen Verletzten war sie ganz sicher unmöglich. Wahrscheinlich könnte er sich die Anstrengung sparen.
Aber er würde den Teufel tun, vor Steffensens Augen auf halbem Weg umzukehren. Den preußischen Beamten hatte er ihm nicht vergessen.

Das Türchen zum Schutzraum war offen und bewegte sich im Wind mit leisem Quietschen. Hansen kroch keuchend hinein. Sein Atem beruhigte sich, während er sich im Sitzen umsah.
Neben ihm lag ein Flaggenstock mit einer blaugelben Signalflagge. Offensichtlich klemmte sie für gewöhnlich in einer Halterung an der Wand, wo sich zwei weitere Haken befanden. An dem einen hing ein mit Ölhaut umwickeltes Paket, der andere war leer. Jedoch lag eine blecherne Trinkflasche, wie sie auch beim Militär ausgegeben wurde, mit geöffnetem Verschluss in einer Ecke des Raums.
Hansens Atem ging wieder schneller. Sollte sein völligungeübtes Gespür für Kriminalfälle ihn doch richtig geleitet haben? Hier war seit der letzten Inspektion durch das Wartungspersonal jemand gewesen! Von Broder Bandick wusste er, dass Proviant und Wasser im Abstand von vier Wochen ausgetauscht wurden.
Er kroch zur Wasserflasche hinüber. Wie er schon vermutet hatte, war sie leer.
Als er ihr Äußeres betrachtete, entdeckte er einen deutlichen blutigen Fingerabdruck.
Die Erleichterung stand Steffensen ins Gesicht geschrieben, als er Hansen an Bord half. »Das Wasser läuft immer noch ab, und ich möchte hier schnellstens weg«, sagte er und begann, das Ankertau Hand über Hand einzuholen. »Du kannst dich in der Kajüte abtrocknen, da ist es warm. Im Spind liegt ein Troyer É«
Zähneklappernd stieg Hansen die kurze Leiter im Vorschiff nach unten. Dort bullerte im Ofen ein Feuer, und aus einem großen Kochtopf auf der Herdplatte stieg Dampf, der nach Krabben roch. Er trocknete sich mit dem Handtuch aus seinem Waschbeutel ab und zog sich wieder an, darüber noch den Troyer, den er zwischen dem Ölzeug im kleinen Schrank fand.
Über Hansens Kopf rumpelte und klirrte währenddessen das Ankergeschirr, und als er wieder oben an Deck erschien, lagen sie schon auf Heimatkurs.
»Etwas gefunden?«, erkundigte sich Steffensen.
Hansen, der mit den Händen auf seine Oberarme schlug, um schneller warm zu werden, nickte bedächtig. »Mehr als ich wollte.«
»Das soll heißen?«, fragte Steffensen.
»In der Bake hat ein Verletzter Schutz gesucht. Ich habe einen blutigen Fingerabdruck gesehen, das Wasser war aufgebraucht und die Signalflagge aus der Halterung genommen. Nur der Proviant war nicht angerührt.«
Dass auf dem Boden weitere Blutspuren gewesen waren, die er sich noch nicht erklären konnte, verschwieg er.
»Vielleicht wurde er von einem vorbeifahrenden Schiff aufgenommen.«
»Vielleicht«, sagte Hansen nachgiebig.
»Vielleicht auch nicht.« Steffensen grinste Hansen an. Offenbar hatte er Verständnis für wortkarge Menschen.
Hansen knöpfte seinen Troyer zu und vergrub sich darin. Bisher hatte er den Toten aus der Distanz betrachtet. Jetzt fühlte er sich plötzlich als Mitspieler in einem blutigen Drama.

In seinem Zimmer auf Hilligenlei notierte Sönke Hansen am nächsten Tag auf der einen Seite eines Doppelblatts, was er wirklich gesehen hatte, und auf der anderen seine Gedanken und Vermutungen.
Kurz und bündig ergab sich, dass ein Mann aus guten Verhältnissen möglicherweise auf einem Schiff umgebracht und als vermeintlich Toter ins Wasser geworfen worden war, sich aber schwer verletzt - durch einen Stich, der das Herz verfehlt haben musste - auf die Seesand-Bake gerettet und dort vergeblich auf Hilfe gehofft hatte.
So weit passten die Fakten gut, danach aber begann die Spekulation. Unklar war, ob er den Versuch hatte wagen wollen, sich auf die gut sichtbaren Sände vor Hooge zu retten, um von dort auf die Hallig zu gelangen, ungeachtet der Fahrrinne, die er möglicherweise als solche gar nicht erkannt hatte. Die andere Möglichkeit war, dass er von der Bake heruntergefallen war. Jedenfalls war er lebend über die Hochwassergrenze hinausgekommen und war entweder an den Verletzungen gestorben oder ertrunken. Die nächste Flut hatte seine Leiche mitgenommen. Aber warum war sie nicht auf Föhr gelandet, wenn der Strom mit der Aue ging?
Was hatte es mit dem Spitzgeschoss auf sich, das dem Toten so wichtig gewesen war, dass er es noch im Tod umklammert hielt? Und was hatte den Kapitän bewogen, eine Havarie zu vertuschen, die gemeldet werden musste?
Oder waren seine ganzen Spekulationen falsch, und das Schiff hatte mit dem Toten gar nichts zu tun?

Kapitel 13
Sönke Hansen fand, dass er bei seinen Nachforschungen endlich ein Stückchen weitergekommen war. Damit aber war sein Aufenthalt hier beendet, denn mehr konnte er im Moment auf der Hallig nicht in Erfahrung bringen.
Da am Sonnabend seine Dienststelle schon am Mittag schloss, er sie also innerhalb der Dienstzeit nicht mehr erreichen würde, brauchte er sich nicht zu beeilen. Montagmorgen würde er rechtzeitig an seinem Schreibtisch sitzen.
Nach dem Mittagessen wanderte er zur Ketelswarf, um mit Mumme zu reden. Ausnahmsweise war er dankbar, Wirk nicht zu begegnen, denn der hätte sich wie eine Klette an ihn gehängt. Und diese blutige Fortsetzung der Geschichte war nichts für seine Ohren. Auf Norderhörn machte er die Entdeckung, dass der streitbare Alte, mit dem sich Tete Friedrichsen so ausgezeichnet verstanden hatte, als es galt, die Pläne des Wasserbauamtes zu torpedieren, auf der Bank vor Tetes Haus saß. Vermutlich war er der Vater. Als Hansen freundlich grüßte, blickte er stur geradeaus. Von dieser Familie war offenbar nicht einmal Höflichkeit zu erwarten.
Mumme saß allein am Tisch in der Dörns und studierte das Meer vor dem Südufer der Hallig, als Hansen eintrat. Stumm wies er auf den Stuhl gegenüber, und Hansen schaute gemeinsam mit ihm ins Fahrwasser, in dem zwei Segler vor dem Wind nach Oland liefen und einer gegen den Wind aufkreuzte. »Die Pidder Lüng und die Rüm Hart. Und die Loosch von Oland«, brach Mumme schließlich das beschauliche Schweigen.
Hansen sah keine auffälligen Merkmale, an denen man die Schiffe hätte unterscheiden können. Im Augenblick interessierten sie ihn auch nicht. »Ich weiß jetzt alles, was ich von der Hallig aus in Erfahrung bringen kann«, sagte er. »Trotzdem habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist und wer ihn getötet hat.«
Ipsen machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Aber ich kenne die Umstände, glaube ich«, fuhr Hansen fort und schilderte ihm die Einzelheiten.
»Donnerwetter!«, rief Ipsen anerkennend, als Hansen fertig war. »Du machst doch weiter?«
»Ja«, sagte Hansen, »aber ab jetzt geht es langsamer, schließlich bin ich im Dienst. Und damit ich überhaupt weitermachen kann, muss ich im Hinblick auf den Halligschutz etwas in der Hand haben, das ich meinem Dienstherrn als Fortschritt melden kann.«
»Du könntest doch sagen, dass zwei Halligen dafür sind und auf der dritten noch beraten wird É«
»Leider nur ist die dritte ausgerechnet Nordmarsch, wo die Baumaßnahmen begonnen werden müssten.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.06.2005