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Enole: Aufregender Fund
in ganz normaler Flamme

Internationales Chemikerteam publiziert in »Science«

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Bielefelder Chemiker haben gemeinsam mit drei US-Teams und einer Gruppe aus China eine Entdeckung gemacht, deren Auswirkungen derzeit noch gar nicht abzuschätzen sind: Die Wissenschaftler fanden Enole - spezielle Kohlenwasserstoff-Moleküle - in Flammen.

Dem multinationalen Team zu Ehren zeigt das nächste Titelbild des weltweit renommierten Fachmagazins »Science« das kalifornische High-Tech-Gerät, mit dessen Hilfe die Entdeckung gelang. Es nutzt die Advanced Light Source (ALS) am Lawrence Berkeley National Laboratory, hoch über der Bucht von San Francisco. Die ringförmige ALS (Durchmesser: 80 Meter) erzeugt ein Licht, das 100 000mal heller strahlt als die Sonne.
»Wir haben da ein Tor geöffnet, wissen aber noch nicht, was uns dahinter erwartet«, sagt Prof. Katharina Kohse-Höinghaus, die das Bielefelder Team leitet. »Unsere Forschung könnte für die Entwicklung der Motoren der Zukunft bedeutungsvoll sein.«
In jeder Flamme verläuft der Verbrennungsprozess in Etappen - zeitlich wie räumlich: vom Zündpunkt durch die Flamme bis zum Austritt in die umgebende Luft. Bei einer Kerze, beispielsweise, werden langkettige Wachsmoleküle zunächst gespalten, die neuen Bausteine formen sich zu Ringstrukturen, und diese lagern sich schließlich aneinander - Rußflocken. Welche Elemente sich in einer Flamme nachweisen lassen, hat die Chemiker von jeher interessiert. Robert W. Bunsen (1811-1899), der erste Gasanalytiker, wies im von ihm konstruierten Brenner Cäsium nach; jetzt ermöglicht die ALS Messungen von nie gekannter Präzision.
An den vorgesehenen Öffnungen, an denen das im ALS erzeugte kurzwellige Licht austritt, docken Forscherteams aus der ganzen Welt ihre Messapparaturen an. Die Nachfrage ist enorm, Messzeiten sind kostbar - und sie werden nach Leistung zugeteilt, also nach dem Niveau, auf dem die Teams forschen.
Die Chemiker aus Bielefeld, Prof. Katharina Kohse-Höinghaus, Tina Kasper und - neuerdings - der Doktorand Patrick Oßwald, sowie ihre Kollegen aus den USA und aus China betreiben Flammendiagnostik. In genau definierten Abständen vom Zündpunkt entnehmen sie der Flamme eine Gasprobe, deren molekulare Zusammensetzung im Massenspektrometer bestimmt wird. Dazu müssen die Moleküle elektrisch geladen (ionisiert) sein, wozu ihnen ein Elektron »weggeschlagen« wird - genau diese Funktion erfüllt das ALS-Licht.
Eine - bekannte - Energie (gemessen in Elektronenvolt) ionisiert Acetaldehyd mit der Struktur CH3-HC=O und der Masse 44. Es gibt ein ähnliches Molekül (Isomer) mit absolut gleichen Atomen und der gleichen Masse 44: Ethenol, das aber anders aufgebaut ist: CH2=CHOH. Deshalb ist auch eine andere (in diesem Fall: geringere) Energie zur Ionisierung notwendig.
Weil sich bei Messungen mit weniger leistungsfähigeren Lichtquellen die zur Ionisierung benötigte Energie nicht genau dosieren ließ, verdeckte im Massenspektrometer das ionisierte Aldehyd das Enol. »Wir waren völlig überrascht, als wir dort, wo nach geltender Theorie nichts hätte sein dürfen, plötzlich die Enole fanden«, berichtet Katharina Kohse-Höinghaus.
Ein im Zuge von Schadstoffdiskussionen häufig genannter Zusatzstoff ist das Ethanol. »Also wollen wir bei unserem nächsten Aufenthalt am ALS eine Ethanolflamme untersuchen«, kündigt Tina Kasper an. »Das wird ein echtes Erlebnis, mit den Experten aus aller Welt diskutieren zu können«, sagt Patrick Oßwald.
Soweit die spannende Praxis. Warum nun in der Flamme ausgerechnet die beobachteten Moleküle, die Enole, entstehen, müssen jetzt Spezialisten der Theoretischen Chemie klären. »Wir sind jetzt in einer Situation als hätten wir Afrika entdeckt, wüssten aber noch gar nicht, was uns das nützt.«

Artikel vom 03.06.2005